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NEWS: Wer bin ich? Und wenn ja, wieviele?

In ‚Watch Dogs: Legion‘ geht ganz London in den Widerstand

Die Reihe Watch_Dogs rückte schon in den Vorgängern den zivilen Ungehorsam gegenüber allmächtigen Überwachungsfeteschisten in den Mittelpunkt. Spielende legten im ersten Teil die totalvernetzten Sicherheitssysteme von Chicago lahm, um dann allerdings nur eine mäßig sympathische Hauptfigur durch eine klischeehafte Rachegeschichte zu führen. Die manipulierbare digitale Umwelt von Chicago hingegen war faszinierend (siehe ->NEWS: Hey, Watch Your Dog! vom 26. Juli 2013). Im zweiten Teil ließ sich eine junge Hackertruppe in San Francisco die Diktatur der Online-Systeme nicht mehr bieten. Ihre Mitglieder piesackten zunächst Medienkonzerne und Sicherheitsbehörden, gerieten damit aber schnell selbst auf deren Abschlussliste (siehe ->NEWS: Schöne Bescherung vom 23.12.2016). Was in der Bay Area nun mit dem Smartphone manipulierbar war, überstieg bei Weitem den ersten Teil – ein riesiger digitaler Spielplatz, der sich auch so manchen Realkonzern satirisch vornahm.

So schnell kann es gehen: vom hilfsbereiten Taxifahrer zum Staatsfeind eines paranoiden Sicherheitsapparats (Watch Dogs Legion – Cinematic Trailer | Ubisoft Forward, in Kanal IGN via Youtube vom 12.7.2020)

Der am 29. Oktober erscheinende Teil fokussiert nun stärker den Widerstandspart. Gleich die ganze Bevölkerung Londons wird dabei vom Spielball staatlich unterstützter Sicherheitsunternehmen zu spielbaren Akteur:innen im Widerstand. Der ist offenbar auch nötig, denn die vernetzten Sicherheitssysteme ‚ctos‘ wurden in London mit einer KI verbunden, beschleunigte Automatisierung sorgt für wachsende Arbeitslosigkeit, was zusammen erst Misstrauen verursacht, dann Unruhen lostritt. Eine mit überbordenden Vollmachten ausgestattete Sicherheitsfirma namens Albion soll für den überforderten Staat die Ordnung wieder herstellen… nun ja, und schießt buchstäblich etwas über das Ziel hinaus.

Der neue Trailer offenbart vielfältige Wege, Menschen für die Widerstandsgruppe zu gewinnen, indem man ihnen bei ihren Anliegen hilft. (Watch Dogs: Legion – Official Recruitment Gameplay Trailer | Ubisoft Forward, Kanal IGN via Youtube 10.9.2020)

Ubisoft hatte schon länger vollmundig ankündigt, jede Person, die im Spiel dargstellt werde, könne durch kleine Missionen nicht nur als Mitglied der eigenen Widerstandsgruppe rekrutiert werden. Nein, man könne diese Personen mit ebenso vielfältigen Eigenschaften und Fähigkeiten auch alle aktiv spielen. Was nach aufgeblasenem Marketing-Geplapper klang, scheint sich aber nun zu bewahrheiten. Ein neuer Trailer zeigt die Möglichkeiten, die vielfältigen Einwohner:innen der Stadt für die eigene Sache zu gewinnen. Dabei sind sie alle keine heldenhaften Übermenschen. Ihre Biografien statten sie vom schlagkräftigen Rentner über Sprayer bis hin zu Sicherheitskräften lediglich mit speziellen beruflichen Kenntnissen oder persönlichen und körperlichen Eigenschaften aus. Auch die Musik im Trailer erinnert deswegen weniger an Lone-Hero-Actionfilme, sondern an die Überfälle der sympathischen Gangster aus der Reihe Oceans-$HierZahlEinfügen.

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INNOVATION: Familienbrut

In ‚Massive Chalice‘ verlangt ein sprechender Riesenkelch, Dynastien von Kriegern zu formen

( PC (getestet) | XBoxOne | OS X | Linux )

Blinzelnd erwache ich in einer Halle, die ein wenig schmucklos wirkt, und doch irgendwie elegant. Ein Kelch steht dort, riesig und messingfarben. Seine Silhouette umwabert ein diffuses Leuchten. Und der Kelch spricht. Nicht nur mit einer Stimme, sondern gleich mit zweien, von denen die eine weiblich, die andere männlich scheint. Ich sei auserwählt, ein Königreich zu retten. Nein, selbst könnten sie das nicht, dafür legen sie mir ihr Schicksal und das des ganzen Reiches in die Hände. Mir?! Einem völlig fremden, der gerade von einem Kelch berufen wurde?

Ein Kelch als Anführer eines bedrohten Reiches - und dennoch nicht eben wählerisch bei der Auswahl seines Stellvertreters: mir als Spieler. (Abb.: eigener Screenshot, PC)
Ein Kelch als Anführer eines bedrohten Reiches – und dennoch nicht eben wählerisch bei der Auswahl seines Stellvertreters: mir, dem Spieler. (Abb.: eigener Screenshot, PC)

Mit dem überdimensionalen, sprechenden Trinkbehälter, der 2013 dem Rundenstrategiespiel ->Massive Chalice seinen Namen verlieh, wirkt das Setting zunächst an den Haaren herbeigeschleift. Allerdings gelingt es dem Entwickler ->Double Fine in diesen dürftigen Rahmen eine packende Spielmechanik zu integrieren. Ein wenig an Glaubwürdigkeit gewinnt das Szenario, weil die an den Kelch gebundenen Reichsverweser selbst nicht aktiv werden können. Sie müssen über zwei Jahrhunderte die Kräfte des Bechers sammeln und dürfen dabei nicht abgelenkt werden. Am Ende dieser Frist steht der Befreiungsschlag in Aussicht: nur die Kraft des Kelches kann eine magische Monsterquelle verjagen, welche „die Kadenz“ genannt wird. Als Spieler soll man daher über die 200 Jahre im Auftrag der Stimmen ein koordiniertes Rückzugsgefecht führen.

httpvh://youtu.be/GTFiooCFh7Y
Mit dem Rundenstrategiespiel ‚Massive Chalice‘ erschien ein spannend inszenierter mittelaltelicher Dynastiegenerator mit einem Endzeitkrieg, der Züge von Faschismus annimmt. Das aber ist kein Defizit des Spiels, sondern eine echte Chance… (Massive Chalice Launch Trailer ! (60 fps) | Kanal DoubleFineProd)

Da die Kämpfer nicht viel älter als sechzig Jahre werden und sich in mehrere Dynastien aufspalten, müssen Spieler vorausschauend handeln. Fähige Verteidiger dürfen nicht aussterben, etwa weil die Bevölkerung nur noch Kinder und Alte umfasst. Außerdem vererben die Eltern ihren Kindern mit gewisser Wahrscheinlichkeit positive und negative Eigenschaften – etwa besondere Führungsstärke oder Kurzsichtigkeit. Also muss eine rigide Heiratspolitik das Beste aus den verbleibenden Jahrhunderten herausholen.

Ein kleines Reich, umtost von der magischen Kadenz. Nicht nur das Setting ist ungewöhnlich, sondern auch das minimalistische Art-Design. Beides trägt jedoch bald sehr stimmig zur Spielatmosphäre bei. (Abb.: eigener Screenshot, PC)
Ein kleines Reich, umtost von der magischen Kadenz. Nicht nur das Setting ist ungewöhnlich, sondern auch das minimalistische Art-Design. Beides trägt jedoch bald sehr stimmig zur Spielatmosphäre bei. (Abb.: eigener Screenshot, PC)

->Massive Chalice bietet damit ein faszinierendes Spielkonzept, ein seltsames Mischwesen zwischen innovativen Mustern von Rundenstrategie und gebrochenen Charakterentwicklungen im Rollenspiel. Es enthält aber darüber hinaus mittelalterliche, dynastische Denkfiguren, sowie beklemmend subversive, zeitgeschichtliche Anleihen an faschistische Weltbilder. Dieser Nexus wirft die Frage auf, ob ->Massive Chalice damit historisch auch Probleme schafft…

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INNOVATION: Zersiebt, verlobt, verheiratet

Mit „Valiant Hearts“ entstand ein spielbares Stück Erinnerungskultur mit erfrischenden Blickwinkeln auf den Ersten Weltkrieg

Manchmal stellt sich erst im Nachhinein heraus, wie gut es ist, sich an selbstauferlegte Arbeitsprinzipien zu halten. Dazu gehört, dass ich mich zu einem ausführlichen Urteil über ein Videospiel erst hinreißen lasse, wenn ich es auch durchgespielt habe. Natürlich bildet sich eine Meinung schon zuvor nach und nach aufgrund von Indizien. Daher konnte ich mit einer Gegenrede in einem ->Kommentar bei der Webzeitschrift ->Public History Weekly auch nicht hinter dem Berg halten, nachdem dort Didaktikerin ->Monika Fenn aus Potsdam einen Beitrag über ->Valiant Hearts: The Great War veröffentlichte (siehe ->Monika Fenn: Kriegsspiel mit Herz? Computer Games zum Ersten Weltkrieg vom 17. Juli 2014). Dort legte ich allerdings auch offen, dass meine eigene abschließende Bewertung zu dem Spiel genau deswegen noch ausstehe.

httpvh://youtu.be/Khl02WOSfXQ
Das Weltkriegsdrama wird durch die einfühlsamen erzählten Beziehungen der Charaktere, ihre Sorgen, Ängste und Erlebnisse getragen. Der britische Pilot allerdings schaffte es trotz des Auftrittes im Trailer nur in eine kurze Filmsequenz im Spiel. (Valiant Hearts: The Great War official trailer [UK] / Kanal Ubisoft via Youtube)

Und diese Zurückhaltung war tatsächlich sehr gut so, weil die historische Qualität von ->Valiant Hearts: The Great War, der Überraschungserfolg, den das kleine Studio ->Ubisoft Montpellier im Juni 2014 veröffentlichte, im Spielverlauf auch überraschend deutlich schwankt. Besonders der mittlere Teil zwischen Kapitel 2 und 3 zeigt systematische Schwächen, die leider dem diametral entgegen stehen, was an dem Spiel in den übrigen Teilen so löblich war. Zudem habe ich jetzt noch ein paar mehr und vielleicht sogar bessere Beispiele und Beobachtungen parat, die erst im späteren Spielablauf auftraten. Im Prinzip aber bleibt es bei meinem früheren positiven Urteil über das 2D-Action-Jump&Run. Dennoch muss ich meine vorläufigen Einschätzungen – die ich bereits in NEWS-Beiträgen dieses Blogs abgab – durch das nun gewonnene Gesamtbild des Spieles nicht revidieren, aber doch relativieren (siehe ->NEWS: Helden der Herzen vom 13. Juni 2014 und ->NEWS: Der vergessene Krieg vom 30. Januar 2014).

Im Kern bleibt ->Valiant Hearts: The Great War, das ->Ubisoft Montpellier mit dem hauseigenen ->UbiArt Framework realisierte, ein herausragendes Beispiel für den gelungenen Umgang von Videospielen mit historischen Themen. Es erzählt den Ersten Weltkrieg eben nicht aus einer strategischen oder einer politischen Perspektive, sondern begleitet fünf sehr unterschiedliche Figuren sehr emotional durch ihre Leben, Leiden und Ableben unter dem Eindruck des Krieges. Und das gelingt den Entwicklern – trotz aller kleinerer Defizite – so gut, dass man als Historiker eigentlich einen Award dafür erfinden müsste…

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