INNOVATION: Da wohnt doch was im Schrank

Questsystem und Erzählweise von „The Secret World“ revolutionieren MMORPGs

Kingsmouth muss einst ein schönes, kleines Fischerdörfchen gewesen sein. Von der Dorfkirche herab führen nur drei Straßen zum Hafen hinunter, wo Fischtrawler dicht an dicht an den breiten Kaianlagen dümpelten. Einst lud der Pastor zum Plausch, die Straßen waren bestimmt voller Touristen und am Hafen hatte man einen sagenhaften Weitblick auf den Atlantik vor Neuengland.

Täuschend leer scheinen die Straßen von Kingsmouth, doch in jeder Gasse lauern die Hirnschlürfer.
Täuschend leer scheinen die Straßen von Kingsmouth, doch in jeder Gasse lauern die Hirnschlürfer.

Der wird jedoch seit Kurzem von einer unnatürlich dichten Nebelsuppe verschluckt, die kotzende Meermonster ausspuckt, auf den Straßen wanken höchstens noch hirnbefreite, aber nach geistiger Nahrung hungernde Zombies und der Pastor kann von Glück reden, dass ein Illuminatenzauber sein Gotteshaus von Hirnschlürfern freihält. Als wäre das noch nicht genug, streifen Wendigos durch die Wälder, rabenhafte Albtraumschnitter metzeln Spielplatzbesucher und Geister poltern ungeliebte Besucher aus ihren Häusern.



Unsere Welt neigt sich ihrem Ende: Mythen und Legenden streifen mordend durch die Straßen, und wer das überlebt hat, dreht den Spieß um...

Warum das so ist, können Spieler nun im MMORPG ->The Secret World des Entwicklers ->FunCom seit kurzer Zeit selbst herausfinden. Dabei stoßen sie auf ein freies Talentsystem mit 500 frei wählbaren Fertigkeiten, eine innovative Queststruktur mit neuartiger Auftragsformen und eine stimmige Spielwelt voller einfallsreicher Geschichten. Trotz der erfrischenden Neuerungen sollten Interessierte aber jetzt zuschlagen, denn der wirtschaftliche Erfolg scheint leider auszubleiben. Das hat Gründe, die sich nicht auf Anhieb erschließen und mehr mit Genre und Branche zu tun haben, als mit dem Spiel selbst…

„It’s the End of the World as We Know It“

In das Chaos einer untergehenden Welt stolpert die eigene Spielfigur nur wenige Tage, nachdem ihr erstmals magisches blaues Energiegewaber aus den Fingerspitzen hervorbrach. Bis diese Kräfte kontrolliert sind, ist bereits die ganze Bude zerlegt, die Nachbarschaft von der Polizei gesichert und eine der drei Hauptfraktionen aufmerksam geworden. Je nach Fraktionswahl im Startmenü schlägt ein Verteter der machthungrigen Illuminaten, der Traditionalisten von den Templern oder der Chaotiker von den Drachen vor der Wohnungstür auf. Mal mehr, mal weniger nachdrücklich macht jeder von ihnen deutlich, dass es das Leben ungemein verlängert, sich in die Obhut der jeweiligen Organisation zu begeben.



Zuhause ist auch nicht mehr das, was es einst war... Es lauert etwas in den Schatten.

Denn die Welt ist eine andere geworden. Zwar spielt das Multiplayer-Online-Role-Playing-Game, also MMORPG, an Orten auf unserem Planeten wie Neu England, London, Ägypten, Seoul und New York, alles ist jedoch aus den Fugen geraten. Auch wenn vielleicht in Brooklyn die schwarzen Massehaufen mit zappelnden Tentakeln nicht so auffallen mögen, mit denen das Böse sich in unsere Welt ergießt. An anderen Orten stechen diese Quellen schon als Kontrast ins Auge.

Der „Schmutz“ zeigt deutlich, hier wird es bald ungemütlich. Dabei haben alle ihre schmutzverschmierten Finger mit im Spiel: Die Illuminaten trachten danach, die Welt durch Machtpositionen und Geld zu kontrollieren, die Templer erzählen jedem, was Gut und Böse denn genau sind, um Kreuzzug zu spielen, und die fernöstlichen Drachen werfen im übertragenen Sinne gern Steine ins Wasser und warten dann ab, wie sich die Wellenkreise überlagern. Da fällt die Entscheidung nicht leicht – die Karriereangebote klingen alle recht reizvoll.


Drei Geheimbünde dominieren die Welt... und kochen ihre eigenen Süppchen
Drei Geheimbünde dominieren die Welt... und kochen ihre eigenen Süppchen

„I’m a firestarter, twisted firestarter“

Auch wenn das Intro jeweils sehr ähnlich abläuft, landet der Spieler in unterschiedlichen Startgebieten. Die Illuminaten erobern die Welt von New York aus, und Drachen ziehen via Seoul ihre Strippen… oder werfen Münzen oder Knochen – das weiß man bei denen nie so genau. Allein London, die Zentrale der Templer, hat KEIMLING sich bisher ausgiebig ansehen können. Denn, wie bei einem Massively Multiplayer Online Rollenspiel (MMORPG) verständlich, braucht es Zeit eine solch riesige Spielwelt zu erkunden. Immerhin soll FunCom seit etwa zehn Jahren daran entwickelt haben. Das will erstmal alles erspielt werden.


Shopping in London ist nun auch nicht mehr, was es einst war.
Shopping in London ist nun auch nicht mehr, was es einst war.

Dem Standort London nur die Rolle eines „Hubs“ zuzugestehen, wie vielfach durch Fachmagazine oder Blogs geschehen, ist ziemlich unfair. Trifft man sich in einem solchen Hub in anderen MMORPGs höchstens zum Quatschen, für Verabredungen zu Schlachtzügen oder um zu handeln, haben die Startgebiete in The Secret World weit mehr zu bieten. Sie sind tatsächlich atmende lebendige Orte, an denen man den Ränkespielen und ihren Schmieden auf die alten Reisszähne fühlt und für das Geschnüffel in den tiefsten Winkeln mit Wissen belohnt wird. Zumindest, wenn man sich auch auf die zahlreichen vertonten Dialoge mit Nicht-Spieler-Charakteren (NPCs) einlässt. Das kostet schnelle Spieler, denen Actionerlebnisse nicht dicht genug getaktet sein können, sicherlich einiges an Überwindung, zumal die Dialogfetzen nicht abgebrochen werden können. Hier könnte man mal über einen Komfort-Patch nachdenken, FunCom. Viele Informationen aus den Monologen ergeben aber ein klareres Bild von den Geschehnissen in der Spielwelt… und werfen aber auch neue Fragen auf.


In Brooklyn dringt das tentakelnde Böse ebenfalls vor, was sich besonders die Illuminaten zunutze machen.
In Brooklyn dringt das tentakelnde Böse ebenfalls vor, was sich besonders die Illuminaten zunutze machen.

Die Einbindung der Startgebiete gelingt auch dadurch vorzüglich, dass aufwändige Quests regelmäßig dorthin zurückführen und manchmal eben auch auf Missionen hinter feindliche Linien. So führt eine Templer-Quest hinab in eine Tiefgarage im New Yorker Stadtteil Brooklyn, um den Illuminaten in ihrem Heimgebiet Artefakte abzujagen. Zudem hinterlässt eine Macht im Hintergrund – das „Summen“, für alle, die das mal googlen wollen – überall in der Welt kleine Wissensknoten wie Hundehaufen. Nur halt im Gegensatz zu jenen nicht direkt auf den Wegen, sondern eher abseits davon. Engagierte Erkunder wie KEIMLING freuen sich über so viel Storyfutter fürs Gehirn in einem MMO und erfahren viele Zusammenhänge zwischen den Fraktionen, den Ereignissen in den Gebieten und wie die Quests da hineinpassen.

„Quest the way, uhuh uhuh, I like it.“

Neben dem neuartigen Talentsystem, in dem nach und nach ganz ohne Stufenbäume jedes beliebige von Hunderten an Talenten entwickelt werden kann, sind die Questtypen eine besonders löbliche Innovation. Die Storyquest, die einen Spieler kontinuierlich durch die Spielwelt trägt, führt zu Schauplätzen voller Haupt- und Nebenaufträgen. Letztere tragen zwar auch kleine Storyfetzen zu Ereignissen und Charakteren der Spielwelt bei, im Kern verkörpern sie jedoch die übliche Kost aus Hol- und Bringediensten. So weit, so konventionell – die Innovation liegt woanders.



Die Welt ist ein Spielplatz - und der ist ein gefährliches Pflaster voller zu lösender Probleme wie dem Rabenwidergänger.

Denn die Hauptquests unterscheiden sich bei The Secret World in neuartige Typen. Natürlich legt man bei Kampfaufträgen vorwiegend etwas um – ob nun Zombies, Werwölfe oder die gegnerischen Fraktionen. Bei Schleichaufträgen sollte man hingegen die Waffe im Holster lassen oder die Magie in den Fingerspitzen, denn hier ist bedächtiges Taktieren gefragt. Schnell erfasst den unachtsamen Spieler eine Kamera und ein ganzes Lagerhaus fliegt in die Luft, oder Männer in schwarzen Anzügen britzeln mit einem Taser, um ihn wieder vor die Tore ihrer Basis zu schleifen. Abgesehen von der grenzdebilen Sehschwäche der Wachen entlang eindeutiger Sichtlinien ist das eine erfrischende Veränderung gegenüber den Quests der Konkurrenz. Selbst hüpfend und winkend wird man in zehn Metern Entfernung allerdings meist nicht wahrgenommen, was der Atmosphäre einen herben Schlag verpasst.

Zusammen mit den in der Welt hinterlegten Wissensfetzen und der Storyquestreihe tragen sogenannte Investigativmissionen wesentlich zum Gefühl einer reichen lebendigen Spielwelt bei. Darin erfordern die Lösungsschritte – im Gegensatz zu den kindlich eindeutigen Beschreibungen bei der Konkurrenz wie z.B. ->World of Warcraft – starken, eigenen Hirneinsatz. Hier heißt es, genau den Aussagen der Spielfiguren zuzuhören, aus verschiedenen Quellen akribisch die Symbole einer okkulten Schrift zu Latein zu transkribieren oder Morsesignale eines Funksignales zu entschlüsseln. Bei vielen Analyseaufgaben verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Realität, wenn eigens ->im echten Web eingerichtete Firmenseiten, zum Beispiel der Orochi Group, nach Personal durchforstet werden müssen, ein Video mit einer Lösung bei Youtube zu finden ist oder Infos bei Wikipedia benötigt werden. Dafür besitzt das Spiel eigens einen Ingame-Browser. Wer das Rätseln schätzt sollte aber die zahlreichen, bereits vorhandenen Komplettlösungen im „echten“ Web meiden. Oft sind bei den Rätseln mehrere Stufen erforderlich, um zum letzten Geheimnis vorzudringen, das meist wiederum überraschende Enthüllungen birgt.

Dabei sind natürlich nicht alle Neuerungen unstrittig. Besonders bei den neuen Questformen hätte man sich mal mehr Gedanken machen können, wie mehrere Spieler diese kooperativ lösen könnten.  Zunächst war es für KEIMLING auch ein verständlicher Abwertungsgrund, dass zeitgleich neben dem Storyauftrag nur ein Dungeon, eine Hauptquest und drei Nebenmissionen aktiv bleiben konnten. War man von anderen MMORPGs gewohnt, einen dicken Stapel an Aufträgen mit herumzuschleppen, erfordert diese Neuerung viel, nein, sehr viel Latscherei. Dies ist bisweilen eine üble Plage, denn die Quests können nicht einfach so reaktiviert werden: ein erneuter Besuch beim Questgeber ist Pflicht. Zwar gibt es Gerüchte, auch die erneute Anwesenheit an einem Zielort des Auftrages reiche dafür aus, dies ist KEIMLING bislang aber nicht untergekommen. Der Verdacht drängte sich auf, dass hiermit nur die Spielzeit künstlich gestreckt werden sollte.

Doch hält die Struktur in der Tat dazu an, durchgängig bei den mehrstufigen Geschichten dabei zu bleiben. So werden Zusammenhänge nicht auseinander gerissen. Vom erzählerischen Standpunkt aus hat FunCom damit Konsequenz gezeigt. Zudem mischen sich die Aufgaben im Questverlauf erfreulich vielseitig, so dass die Erzählung spannend bleibt.

„Slip to the void, To the dark, To the fall“

Warum das Chaos sich Bahn bricht, soll der Spieler im Verlaufe der zahlreichen, sogar in der deutschen Variante gut vertonten Quests selbst ergründen. Die als Auftraggeber in der Spielwelt zu findenden Nicht-Spieler-Charaktere (NPCs) sind zwar oft stereotyp, haben aber alle passende Hintergründe zu erzählen und glaubwürdige Motive. Offensichtlich haben alle ihre eigenen großen und kleinen Sorgen, seit in der ganzen Welt Mythen und Legenden in unsere Wirklichkeit hereinbrechen.



Illuminaten scheinen ihre Freude daran zu finden, dass sich die Machtverhältnisse verschieben.

In Kingsmouth trifft man neben Feld-Wald-und-Wiesenzombies, tentakelige Meermonster und forscht dem letztlich unerfreulichen Verbleib vermisster Stadtbewohner nach. Zudem bringt das Spiel zahlreiche Einzelschicksale nahe, wie den unruhigen Geist einer jungen Frau, die damit nicht klar kommt, als einzige von der Hirnschlürfseuche verschont geblieben zu sein. Sie erhängte sich – nicht wissend, dass es der Stein in ihrer Halskette war, der sie schützte. Je tiefer man in die Stadtgeschichte eindringt, umso klarer wird: es ist kein Zufall, dass ausgerechnet hier die Hölle los ist.

In den umliegenden Hügeln von Kingsmouth erheben sich Leichen nicht einfach aus dem Nichts. Von Vorarbeitern angetrieben scharren die lebenden Toten in Massengräbern herum, die auf Hexenjagden zurückgehen oder auf die unchristliche Entsorgung Verstorbener nach einem großen Stadtbrand. Weiter im Süden an der Savage Coast haben Einwohner vor Jahren die Hütte einer vermeintlichen Hexe niedergebrannt, nicht ohne sich zu vergewissern, dass die Gute auch drinnen war. Das Böse schlummert stets in der Geschichte der Umgebung, und oft ist der Mensch selbst dafür verantwortlich. Nicht weit davon liegt das Overlook Motel – jeder Stephen King Leser dürfte die Anspielung auf das Hotel in „The Shining“ verstehen. Da sein irrsinniger Versuch, absichtlich in die Hölle zu gelangen, gelungen ist, hat ein Gast gleich das ganze Motel mit auf die Grenze zwischen den Dimensonen verschoben. So sind die neuen Bewohner dort eher unangenehme Zeitgenossen – und riechen nach Schwefel und hinterlassen die Zimmer wie Sau. Weiter Richtung Süden fallen der Hochschule der Illuminaten die eigenen Experimente auf die Füße, bzw. sie geistern jetzt anstelle der Studenten durch die Gänge. Für gutes Karma von Land und Leuten sorgt so etwas natürlich nicht.

„Gotta Fight for Your Right to Party“

So zeigt sich die wahre Stärke von The Secret World in einem mit anderen MMORPGs nicht einmal annähernd vergleichbaren, narrativen Reichtum. Dies scheint jedoch nicht bei jedem angekommen zu sein, der in Web und Magazinen das Spiel rezensiert hat.

Tatsächlich gibt es natürlich berechtigte Kritik, wenn es um die hölzernen Charakteranimationen, die in Gesprächen stumm-doofe eigene Spielfigur oder das doch nicht ganz so freie Talentsystem geht. Auch ist es – so paradox es für ein MMORPG ist – schwierig, bei zu schweren Quests einen Helfer zu finden, weil dieser seine eigene Hauptquest dafür aussetzen muss. Nur wenige tun dies, wenn sie sich selbst innerhalb einer Mission befinden.

Dass das Endgame, also die Inhalte für Spieler, die bereits ihre Figur maximal ausgebaut haben, eher dünn sein soll, konnte KEIMLING noch nicht überprüfen, dafür sind die Geschichten einfach viel zu fesselnd. Einerseits liegt eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber solchen Inhalten bei Verkaufsstart relativ auf der Hand. Andererseits hat –>FunCom dieses Branchengesetz schon bei vergangenen Projekten wie ->Age of Conan gern überstrapaziert. Nachdem das Barbaren-Fantasy-MMORPG anfangs vielversprechend gestartet war, ließ FunCom es durch genau denselben Fehler beinahe vor die Wand fahren. Dabei sammelte der Entwickler zum Beispiel mit ->Anarchy Online schon Erfahrungen mit Massen-MMOs, als für ->World of Warcraft Entwickler ->Blizzard der Begriff MMORPG noch ein Femdwort war.



Seit 2001 sammelt FunCom bereits Erfahrungen mit den MMOs - rätselhaft, warum es dennoch zu massiven Fehleinschätzungen von Genre und Kundenwünschen kommt.

Dass etwas ganz anderes als diese Kritteleien nicht stimmen kann, zeigt sich jedoch bei den unterschiedlichen Bewertungen weltweit. Ganz und gar bemerkenswert ist die große Diskrepanz der Bewertungen besonders in der neuen Welt. Während im alten Europa die Wertungen in Webreviews und Magazinen im noch guten oberen 70er-Bereich (von Hundert) liegen, stürzen amerikanische Werte geradezu vernichtend ab. Hingegen zeigen User Scores bei ->Metacritics, einer Webseite, die weltweite Wertungen in einen gemeinsamen Index zusammenfasst, im September eine sehr ordentliche Bewertung von 8.3 (von 10). Es ist schwer durchschaubar, woran dies definitiv liegt, Verdachtsmomente hingegen gibt es genug. Denn The Secret World richtet sich nicht an jeden Spielertyp gleichermaßen.

Auch wenn die Publisher es immer weismachen wollen: es gibt es ihn nicht, den international einförmigen Spielertyp. Traditionell ist der US-Markt eher actionlastig mit einem Faible für Krach, Gewalt und explosionslastigen Bombast, andererseits laufen dort alle hysterisch im Kreis, sobald an der gerade zerstückelten Leiche ein Nippel zu sehen ist. Auf dem nordeuropäischen Markt ist dies eher kein Problem, schwer verständlich für den Rest der Märkte auf der Welt ist hingegen die Neigung, sich in komlexeste Wirtschaftskreisläufe einzufrickeln, um Städte oder Imperien auszubalancieren. In Japan zum Beispiel werden Geschichten und Emotionen in für den Durchschnittseuropäer endlosen Dialogen und langatmigen Schnitten ausgekostet. Für den Wertungssalat bei ->The Secret World könnten diese unterschiedlichen Spielkulturen ebenfalls bedeutsam sein.

Die Hauptkampflinie scheint aber zwischen sogenannten Grindern und Explorern zu verlaufen, liest man aufmerksam in Blogs und Magazinen. Die beiden Begriffe beschreiben Spielertypen, die nach vollkommen unterschiedlichen Spielerfahrungen suchen, wobei natürlich Spieler nicht jeweils klar unter nur einen Typen fallen. Grinder suchen in erster Linie nach einem Umfeld in MMOs, in dem Gegner ihrer Ausrüstung und Erfahrungspunkte wegen erschlagen werden. Mit Gold und Kampfeinsatz streben sie nach den besten Panzern und Waffen, mit den Erfahrungspunkten schulen sie die Fertigkeiten der Charaktere, um im nächsten Kampf noch besser dazustehen. Die Spielwelt wird so zur bliebigen Kulisse, in der vielleicht am Ehesten noch Effekte, Gegnervielfalt und stimmige optische Einheit der Spielwelt zählen.

Erzählerisch ist so etwas natürlich mau, und doch funktionieren die weitaus meisten MMORPGs recht gut für Fans solcher Spielmechanik. Anderen hingegen ist dies kein ausreichender Ansporn – dazu gehören eben auch die genannten Explorer. Die meisten von jenen begeistern sich fürs Erkunden von Landschaften, Gespräche mit NPCs und suchen die hinterletzten Gegenden ab, um versteckte Geheimnisse aufzudecken.  Sie schließen jeden weißen Fleck auf der Landkarte, und so sehr sie andeutungsreiche, verflochtene Hintergrundgeschichten lieben, so sehr lechzen sie danach, alles darüber zu wissen.

Nun ist es für die meisten Spielumgebungen schwer, diesem Forschergeist genügend Futter zu besorgen. Ein Grinder geht zur Not auch zwanzig Mal auf einunddasselbe Schlachtfeld, bis beim zwanzigsten Mal der Feind endlich die seltenen, violetten Handschuhe fallen lässt. Wiederholung ist hier Nebensache. Der Explorer hingegen wiederholt nur selten eine Quest, weil die Geschichte dahinter eben auserzählt ist. Für einen Entwickler ist es so natürlich ungleich schwieriger, die Spielwelt mit genug fesselnden Inhalten zu füllen.

„Money, Money, Money“

Dies ist eine Herausforderung, der sich FunCom gestellt hat. Einerseits war die Entwicklungszeit mit zehn Jahren lang genug, vielfältige Inhalte ins Spiel zu stricken, andererseits sollten monatliche Updates, sogenante Issues (z.B. aktuell ->Issue #3 – Der Katzengott), ständig neues Material liefern. Der erste Patch hatte tatsächlich fristgerecht neue Inhalte parat. Angesichts etwa nur 200.000 verkauften Exemplaren weltweit, was schon wirklich mager ist, und daraus folgenden Entlassungen, verschob sich aber bereits das zweite Update und das dritte fällt spürbar dünner aus. Es ist die Frage, wie lange sich die Spieler hinhalten lassen.

Vielen scheint durchaus bewusst zu sein, dass mit einem eventuellen Untergang von ->The Secret World nicht nur das bisher erzählerisch durchdacheste MMORPG mit einem ungewöhnchen Setting von der Bildfläche verschwinden würde. So sind die dort spielenden Explorer vielleicht auch geneigt, geduldiger zu sein als üblich. Wahrscheinlich endet damit auch für lange Zeit jeglicher Ansporn, auch Explorern ein MMO-Angebot zu schaffen. Übrig blieben dann nur noch Asia-Grinder-Klone – was für ein Albtraum.


Heutige Spezialität: Gesichtsschnitzel. Der Küchenchef von Ausgabe #2 bei der Arbeit.
Heutige Spezialität: Gesichtsschnitzel. Der Küchenchef von Ausgabe #2 bei der Arbeit.

Solange aber die Albträume noch innerhalb von The Secret World wüten, sollte man vorrangig dort dagegen kämpfen. FunCom muss massive strategische Fehler beheben, die einem so erfahrenen Entwickler nicht hätten passieren dürfen: schleunigst sollten sie das Spiel auf Free-to-Play umstellen und die Friseure und Schönheitschirurgen in ihren bezogenen Läden in der Spielwelt erweitern und fortentwickeln. Wieso darf man bislang eigentlich keinen fetten, alten Armeeveteran mit Narben, Beinprothese und Glatze spielen? Das wäre einem realitätsnahen Setting würdig. Oder eine dürre, wütende und wehrhafte Teeniegöre in einem rosa Cocktailkleid. Spieler können zwar endlich das Aussehen der Figuren gegen Bares anpassen, was bei den hölzernen Anfangsmodellen wohl einige Spieler auch tun werden – zumindest, wenn sie dann noch spielen, in dem Konzept steckt jedoch noch viel ungenutztes Potenzial.

Zudem sollten die Norweger die grundlegende Entscheidung treffen, ob sie das Spiel tatenlos ins Nichts dümpeln lassen oder nicht vielleicht noch eine Impulskampagne starten. Der Zeitpunkt scheint mit Halloween nicht nur fürs Setting von TSW günstig, zudem sind viele Spieler von dem auch durch Magazine wie der ->Gamestar zu unrecht überproportional häufig gehypten ->Guild Wars 2 (Ja, echt, Petra!) schon kurz nach Release massiv enttäuscht. Zumindest jene, die substantiell Neues erwartet haben – Grinder sind wie üblich mit einer neuen Grafikengine zufrieden zu stellen. Auch das Addon Mist aus Pandaria ->Mists of Pandaria für den Platzhirschen ->World of Warcraft zeigt sich als uninspiriertes Kung-Fu-Panda-Imitat. Hier hätte FunCom durchaus Chancen, gefrustete Gamer wieder für ->The Secret World an Bord zu holen.



Auch als MMORPG in den Sand gesetzt: Die Star Wars-Marke. EA kann offenbar keine MMOs - quatscht da die Zentrale den Fachleuten zu viel rein?

Es zeigen sich so unfassbare Schwächen des Managements, dass man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. Natürlich war der Hauptfehler, bei einem eher randständigen Setting in Zeiten des Free-to-Play auf ein Abo-Modell zu setzen. Immerhin hat sich der Publisher von The Secret World, ->Electronic Arts (EA), gerade erst mit der wesentlich bekannteren Marke ->Star Wars – The Old Republic aufs Gesicht gelegt, obwohl dafür die Rollenspielveteranen von ->Bioware verantwortlich waren. Absolut dämlich war hingegen die Entscheidung, sogar höhere Abo-Gebühren als der Marktführer World of Warcraft zu verlangen und schon bei der Installation die Kreditkarte zwingend vorauszusetzen, obwohl die Kunden gerade erst im Geschäft Geld auf den Tresen gelegt hatten. Wenn obendrein auch noch die Bezahlinhalte, um den Charakter anzupassen, erst zwei Monate nach Release reingepatcht werden sollen und sich zusätzlich noch verspäten, muss man sich über mangelnde Umsätze und den Unmut der Spielerschaft nicht wundern. Dass für diesen Verzug ausgerechnet panische Massenentlassungen verantwortlich sind, setzt dem Ganzen die Krone auf. Der für FunCom typische Mangel an High-Level-Content lugt in diesem Zusammenhang auch schon mal um die Ecke.

Bei wem genau für diese eklatanten Ungereimtheiten die Verantwortung liegt, ob bei EA oder den Entwicklern, ist für Außenstehende nicht verlässlich auszumachen. KEIMLING will daher nur mal zu denken geben, dass offenbar Electronic Arts kein Glück mit der Entwicklung von MMORPGs hat. Selbst wenn talentierte Entwicklungsstudios mit teils jahrelanger MMO-Erfahrung den Job machen. Nicht wahr, EA?

„In the End It Doesn’t Really Matter“

Doch, wenn man diese Startmängel und Fehlentscheidungen beiseite lässt, bietet The Secret World tatsächlich ein völlig andersartiges Spielerlebnis. Es liefert eine Spielwelt, die über die Kulissen und Staffagen der Konkurenz hinaus geht und endlich wirklich zählt. Die Einzelquests und Reihen erzählen dichte Geschichten mit zahlreichen Andeutungen, an die wiederum neue Narrationen anschließen. Das ganze Setting erfrischt das Genre wie die Branche: mit einer Pumpgun auf Zombies losgehen, bittesehr; lieber ein Katana zücken und Werwölfe wie Butter durchschneiden? Kein Problem. Auch für Magier gibts genug einfallsreiche Zauber zu entdecken. Und in ein Gruppengebiet gehts stilecht mit dem Heli… nicht mit einem ausgelutschten Nachtelfenflattermann oder einer Rebellen-Landungsfähre.

Auch wenn die Patches sich verzögern, gibt es doch kontinuierlich neue Questinhalte. Damit verbunden kommt auch die Customization in die Gänge, also der Barber Shop für Frisuren und der Beauty Schnetzler für bzw. gegen körperliche Defizite. Gepflegt wird das MMO also sehr wohl auch strukturell und nicht nur an den Inhalten. Zwar mussten tatsächlich einige Mitarbeiter bei FunCom ihre Köfferchen nehmen, aber beim Übergang von einem Entwicklungsteam zum permanenten Spielbetrieb ist das schon immer so gewesen – wenn auch nicht in einer solchen Intensität. Dennoch: Bei den anfänglichen Begleitumständen wird man die neuen Issues des Spieles in Zukunft wohl nicht ohne ein scharfes Auge betrachten können, ob sie inhaltlich an Qualität und Umfang schrumpfen. Das ist FunCom auf keinen Fall zu empfehlen, weil dann die Pflege auch gleich gelassen werden kann.


Auf die Fresse: Nicht einfach nur frisiert, The Secret World unternimmt mit der Gesichtschirurgie tiefere Eingriffe vor.
Auf die Fresse: Nicht einfach nur frisiert, The Secret World unternimmt mit der Gesichtschirurgie tiefere Eingriffe vor.

FunCom versucht indes zu beruhigen, indem der Häuptling des Entwicklers, Ragnar Tørnquist, eine Batterie von Interviews veröffentlichen lässt. Darin betont er unablässig, dass man an den langfristigen Erfolg von The Secret World glaube und weiter fleißig an neuen Inhalten arbeite. Weniger sensationell daran ist, dass FunCom auf die Gerüchte um die Firmen-Apokalypse reagiert, als dass deutlich wird, wie sehr ihnen die Defizite bewusst sind. Eine Firma wie FunComs Pubisher EA hätte in der gleichen Lage wohl eher was vom rosa Regenbogenland erzählt, bei dessen Lage natürlich alle anderen alles falsch verstanden haben.

Der testweise Trip ins zombieverseuchte Kingsmouth kann also nur wämstens empfohlen werden – den Pessimisten, weil die orginelle, erzählerisch spannende Spielwelt vieleicht nicht mehr lange existiert, den positiv Eingestellten, weil sie mit ihrem Probe-Besuch das Projekt am Leben erhalten werden. FunCom bietet hierfür zur Zeit sehr komfortable ->3-Tage-Pässe an. KEIMLING konnte allerdings noch nicht überprüfen, ob FunCom wenigstens dafür die unsägliche Praxis fallen gelassen hat, schon beim Download des Clients die Kreditkarte zu verlangen.

So steht nun wirklich niemandem mehr eine Ausrede zu, warum er oder sie nicht wenigstens einen Kurztrip von drei Tagen in dieses Innovationsfeuerwerk  buchen sollte. Die dichte Atmosphäre zieht sofort in die Spielwelt hinein. Wer genügend Geduld hat, um sich an Filmsequenzen zur Story auch in einem MMO zu erfreuen, gute Geschichten und saftige Rätsel liebt, kommt um das Spiel ohnehin nicht herum. Erst recht nicht, wenn eine Umstellung auf das Free-To-Play-Modell erfolgen wird.

Vielleicht treffen Sie ja auch mal einen rastlosen Blonden in Jeans und Kapuzenpulli auf dem deutschen Kobold-Server, der auf den Namen Lionsheart hört und mit Schrotflinte und Kältezaubern Zombies, Akab und Wendigos das Ableben erleichtert. Dann grüßen Sie den mal schön, und wenn er nicht gerade etwas Wichtiges zu tun hat, questet er sicherlich auch ein paar Runden mit Ihnen. So, jetzt heißt es aber wieder die Flinte entsichern und rein in die Blue Mountains… dort gibt es noch eine Menge zu tun. Moment…  Bah, ist das Blut da auf dem Kapuzenpulli? Muss ich schon wieder nach London zum Shoppen? Dabei war der doch gerade erst neu – gut, dass es nicht das eigene Blut ist.

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8 Gedanken zu „INNOVATION: Da wohnt doch was im Schrank“

  1. EIN Update hat sich verzögert. Ich möchte noch mal betonen: EINES. Das davor und das danach waren pünktlich.

    Und die Erwähnung von EA? EA hat mit TSW so gut wie nichts zu tun. Funcom nutzt die Vertriebswege von EA-Partners, bezahlt diese sogar dafür, und hat keinerlei vertraglichen oder finanziellen Abhängigkeiten gegenüber dem EA-Mutterkonzern.

    Eigentlich alles nachzulesen, ganz offiziell, wenn man denn nur wollen würde 😉

  2. Danke für Deine Anmerkungen. Ich schrieb allerdings auch, dass sich EIN Update verzögert hat, das dritte Update jedoch einen spürbar geringeren Umfang hatte.

    Dass EA ein passiver Vertriebskanal sei, mag offiziell so vereinbart sein, glaubwürdig ist es jedoch nicht. Natürlich wird man auch dort darauf gedrängt haben, gewisse Geschäftsmodelle zu etablieren. Ich habe mich bewusst zurückgehalten.

    Ich finde jedoch, man darf schon darüber spekulieren, warum ausgerechnet die beiden größten letzten Neustarts SW:TOR und TSW von EA ausgerechnet mit einem Abomodell starteten und grandios vor die Wand fuhren. Es ist meiner Ansicht nach naiv, von einer so klaren Trennung zwischen Publisher und Entwickler auszugehen.

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