Ein Relaunch macht aus dem MMORPG ‚The Secret World‘ ein neues Spiel – aber auch ein besseres?
In letzter Zeit ist es leer geworden in Tokyo. Gut, seit eine pathogene Bombe die U-Bahn in die Luft sprengte, drücken sich ohnehin nur noch selten Menschen offen durch die Gassen. Zwischen Ginpachi Park, der Uferpromenade, Kaidan City und den Hochäusern nahe der Werft schlurfen bloß noch seltsame Kreaturen durch die Straßen, verseucht, mutiert und mordlustig. Schön blöde, wer von den wenigen Überlebenden dazwischen seinen Kopf herausstreckt. Zusammen mit anderen Agenten brach ich vor einigen Monaten nach Tokyo auf, weil die japanische Regierung jede Kontrolle verlor. Trotz gigantischer Schutzmauern war die Seuche aus dem Biowaffen-Attentat nicht einzudämmen. Eine Entscheidung gegen die Monsterflut sollte herbeigeführt werden und der Grund für dieses Desaster gelüftet. Nun bin ich so ziemlich der einzige hier, sieht man von ein paar mühsam gehaltenen Brückenköpfen der Yakuza und anderer zwielichtiger Organisationen ab. Aber man tut halt, was man kann. Von allein dezimieren sich die schlurfigen Kreaturen ja nicht.
Dem Spielgefühl leistet die Einsamkeit keinen Abbruch, war man in dem Online-Rollenspiel ->The Secret World vom norwegischen Entwickler ->FunCom doch von Anfang an meist allein unterwegs. Was Viele für einen Widerspruch zur Spielform der Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPGs) hielten, passte zumindest hervorragend in das düstere Setting. In einer modernen Gegenwart, die etwa um das Jahr 2010 anzusiedeln ist, erwachten Mythen und Legenden zwischen der amerikanischen Ostküste, Ägypten, Rumänien und Fernost zum Leben. Die Spieler zogen in die Welt, um die Gründe für diese Erweckung zu finden. Dabei erlebten sie zahlreiche fantasievolle Geschichten auf Basis historischer Begebenheiten, die Literaturgeschichte und populärkulturelle Vorstellungen einspannten und verschwörerische Theorien mitten hindurchwoben. Durch die Manifestation all dieser Vorstellungen zeichnet ->The Secret World weniger ein realweltliches Abbild der Geschichte, setzt aber mit vielschichtigen, komplexen Überlieferungen ein außergewöhnliches, kulturhistorisches Denkmal (siehe ->INNOVATION: Da wohnt doch was im Schrank vom 5.10.2012).
Diese narrative Dichte mit einem MMMORPG zu verbinden, war ein gewagtes Experiment, weil es mit zahlreichen Konventionen dieser Spielform brach. Viele Mechaniken versuchten zum Beispiel gerade der Spielermenge und dem Durchschleifen von zahlreichen unerledigten Aufträgen entgegenzuwirken. Wer aber mit anderen Spielern zusammen die Geheimnisse erkunden wollte, konnte dies jederzeit serverübergreifend tun. Sie traf man schließlich überall – ob nun im Londoner Pub „Der Gehörnte Gott“, in einem südkoreanischen Netzwerkcafe, New Yorker Hinterhöfen oder in der Hohlwelt Agartha. Wer aber für die Story kam, den zermürbte, wenn nicht schon das kryptische Talentsystem, dann spätestens das monotone Grinding, als die Abstände für neue Geschichten sich auf Monate dehnten. Wer für das MMO kam, den vergräzte das bockige Kampfsystem, die mangelnde Auswahl an kooperativen Schlachtzügen und das unbalancierte Schlachtfeld für den Kampf unter Spielern (PvP). Im Ergebnis verließen immer mehr Spielende die geheime Welt (weitere Gründe in ->KOMMENTAR: Totengräber verborgener Welten vom 20.1.2014).
Üblicherweise macht die Branche mit ökonomischen Misserfolgen kurzen Prozess. Nach Weltuntergangsfeiern mit der Community schalten die Publisher die Server ab und die spielegeschichtlich bedeutsamen Welten gehen unwiederbringlich verloren. ->FunCom, so muss man dem einzigen unabhängigen MMO-Entwickler zugute halten, betrieb ->The Secret World dennoch über Jahre weiter. Für das einzigartige Szenario suchten sie nach Wegen, es am Markt neu zu positionieren. Der überraschende Erfolg des brutalen Vorzeit-Survival-MMO ->Conan Exiles spülte nun erhebliche Mittel in die klamme Entwicklerkasse. ->The Secret World erhält daher dieses Jahr als ->Secret World Legends eine neue Chance. Die für die Branche innovative und ungewöhnliche Wandlung vom Online-Rollenspiel zum „Shared-World Action-RPG“ führt hoffentlich in eine Zukunft, welche auch die inhaltliche Stagnation wieder in eine neue Dynamik umkehrt. Der Umbruch wird aber auch ein harter Einschnitt für all jene, die ->FunCom und dem Unikat ->The Secret World über Jahre die Treue hielten…
Vom Rohjuwel zur Kristallvase zum Edelstein?
So innovativ und wundervoll das Spielerlebnis also war, glich ->The Secret World dem Versuch, aus einem Edelstein eine Vase zu schleifen. Handwerklich gut gemacht und beeindruckend glänzend, erfüllte das kleine Unikat formal die Aufgabe, war künstlerisch interessant und höchst innovativ, stellte sich aber in vielen Belangen als funktional widerborstig heraus. Mit dem Relaunch als ->Secret World Legends will ->FunCom dem erzählstarken Historienspiel neuen Atem einhauchen. Vom MMO ist dabei nicht mehr die Rede, denn die Neuauflage soll ein „Shared-World Action-RPG“ werden. Da gegenwärtig eine geschlossene Beta-Test-Phase läuft, lässt sich nicht genau feststellen, was dieses Marketing-Label genau bedeuten wird. Hinter den einzelnen Begriffen versteckt sich jedoch eine Veränderung der Spielmechanik, die bereits 2012 einige Tester vorgeschlagen hatten. (siehe ->Lück, Patrick/Gebauer, Jochen: Verschwörungstheorie zum Selberspielen. The Secret World Test, in: gamestar.de vom 3.7.2012).
Jetzt sollen nur noch kleine Spielerzahlen je Gebiet einzeln oder kooperativ die Geschichten erfahren, in actionlastigerer Shootermanier mit Rollenspielelementen . Vor allem das Gameplay wird also komplett über den Haufen geworfen. Das Geschäftsmodell wird Free-2-Play sein, angeboten wird ->Secret World Legends nur via ->Steam. Grundsätzlich kann also jeder nach der Betaphase kostenfrei ->Secret World Legends herunterladen und spielen. Alle Geschichten – auch die zukünftigen – sollen kostenlos bleiben. Um Einnahmen zu generieren, setzt ->FunCom auf käuflich erwerbbare Beschleunigungspakete für den Spielfortschritt, kosmetische Veränderungen und die Erweiterung von Charakterslots. Mir erscheint fraglich, ob das genügend Einnahmen generieren kann. Gerade die komplexen Geschichten schufen eine dichte Atmosphäre, die als Kern das Spielerlebnis getragen haben. Sollten zukünftige Inhalte damit konkurrieren können, bliebe der Entwicklungsaufwand hoch. Ich persönlich würde lieber Geld für zusätzliche Inhalte auf dem gleichen Niveau bezahlen, bevor ->FunCom nur noch repetitive Platitüden serviert.
Nach meiner gegenwärtigen Einschätzung behält ->FunCom für den Umbruch die Tugenden und die Defizite des Spieles gut im Fadenkreuz. Erhalten bleiben sollen die zahlreichen, dutzende Stunden messenden Erzählungen und die Figuren im Spiel; Atmosphäre und Gebiete bleiben wohl so gut wie unangetastet. Unruhig lässt die Community aufhorchen, dass die Entwickler vage andeuten, ein Streamlining für die Haupthandlung durchzuführen. Das könnte mehr Probleme verursachen, als es „streamlined“. Als sicher gilt, dass die Metamorphose das kryptische Talentsystem entschlackt und das überfrachtete und störrische Kampfsystem aktiver mittels eines Fadenkreuzes umsetzt. Zwar werden wohl die MMO-Server vorerst weiter laufen, besonders bitter für alle Veteranen des Spiels aber ist, dass die Charaktere und ihr Spielfortschritt nicht übertragbar sein sollen. Für alle Fans, die dem Spiel hunderte Spielstunden die Treue hielten, um etwa die riesige Wissensdatenbank freizuspielen, ist das ein unvermittelter Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Benutzer der MMO-Variante kommen obendrein nicht mehr in den Genuss von Updates oder neuen Geschichten. Die angekündigte Season 2 der Haupterzählung wird nur ->Secret World Legends erhalten, um die aber zu erreichen, müsste man einen komplett neuen Charakter bis nach Tokyo führen (siehe ->Royce, Bree: Massively Overthinking: It’s The End of The Secret World As We Know It, in: Massively Overpowered vom 7.4.2017). Das sind, vorsichtig formuliert, nicht die besten Entscheidungen bezüglich der Fangemeinde, sollte es so kommen.
Dutzende, wenn nicht sogar hunderte Stunden habe ich als Spieler und als Wissenschaftler für meine Dissertation in ->The Secret World verbracht, um bis nach Kaidan zu kommen. Ich bezweifle, dass ich eine neue Karriere ganz von vorn starten würde, um von Neuem alle Missionen durchzuspielen, nur um schließlich nach weiteren hundert Stunden wieder in Kaidan zu stehen und dann auf eine Season 2 zu warten, die bereits für das Originalspiel so lange in Aussicht stand. Vielleicht lade ich auch einfach nur meine Pistolen, beschwöre meine Elementarkräfte und halte dem pathogenen Mob in Tokyo so lange weiter stand, bis alle Agenten verschwunden sind und eines Tages die Lichter der Stadt endgültig erlöschen.
Möglich aber auch, dass ich mich aus Sicht einer anderen Fraktion noch einmal in die neue Welt begebe. Denn aus ihrem speziellen Weltbild heraus kommentieren sie die zahlreichen Erlebnisse der Spielfigur sehr unterschiedlich. Diese Multiperspektivität ist eine zusätzliche Qualität der Spielwelt. Die konservative Templer-Fraktion, der ich gegenwärtig angehöre, spielt sich gern moralisch auf und teilt alle Ereignisse schnell nach Gut und Böse. Die New Yorker Illuminaten hingegen suchen vor allem den kapitalistischen Eigennutz in den Ereignissen der Welt. Und die ostasiatischen Drachen… nunja: Ihnen gefällt es, die Wellen zu beobachten, die geschlagen werden, wenn sie in das Meer aus Chaos ihren Stein noch dazu werfen. Nach all der Zeit würde allerdings eine neue Fraktion auch von mir eine erhebliche Veränderung verlangen, weshalb ich noch unentschlossen bin. Dennoch wird mich wohl letztlich die Aussicht locken, erneut in eine einzigartige historische Inszenierung abzutauchen, in der glaubwürdige Charaktere, bekannte und vielleicht auch neue, ihre verschiedenen, teils widersprüchlichen Wahrnehmungen erzählen – zumindestens dann, wenn die Erzählung tatsächlich fortgesetzt wird. Ein Ende mit einem Neuanfang ist immer noch besser, als ein Ende mit Ende, von dem nur Erinnerungen bleiben (und 2018 hoffentlich meine Doktorarbeit).
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