NEWS: Mehr als alle Tassen im Schrank

In der Verwandlung liegt die Spielmechanik, die ‚Prey‘ zum einzigartigen Erlebnis macht

Dass sich Entwickler an erfolgreichen Vorbildern für ihr Spiel orientieren, ist nicht überraschend. Im gegenwärtigen Markt scheitern etwa sieben von zehn Spielen wirtschaftlich, zwei lohnen sich mäßig und nur eines wird zu einem guten Geschäft. Daher nutzen Entwickler natürlich gern bekannte Spielprinzipien, die bei den Spielerinnen und Spielern bereits einmal verfangen haben. Allzu dreiste Klone wiederum strafen die Kunden allerdings auch ab. So liegt das Geheimnis eines guten Entwicklers darin, die gewählten Vorbilder durch eigene Innovationen graduell fortzuentwickeln.

Gekonnt bedienen sich zurzeit die ->Arkane Studios für ihren Shooter ->Prey an so einigen Vorlagen. Von ->Bioshock über ->Deus Ex bis hin zu ->Dishonored klauben die Entwickler in der Tat zahlreiche Spielmechaniken zusammen. Das nimmt solche Formen an, das manche Redakteure urteilen, das Spiel habe keine eigene Seele. Es sei lediglich ein Mosaik erprobter Versatzstücke, die zwar gut aufeinander abgestimmt seien, jedoch das Gefühl vermitteln, alles schon einmal gespielt zu haben. Sogar die Marke ->Prey ist schon einmal da gewesen, wenn der Reboot durch ->Arkane auch mit dem ->Original von 2006 bloß noch das Setting im Weltraum gemein hat.

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Auch wenn der Trailer den gewöhnlichsten Plot eines Shooters verkauft, weist die Raumstation eher eine vielschichtige Tiefe auf wie der Rumpf eines Eisberges unter der Wasseroberfläche. (Prey Official Launch Trailer | Kanal Bethesda Softworks via Youtube, 3.5.2017)

Bei genauerem Blick jedoch offenbart ->Prey ein paar innovative Ideen, die das gesamte Mosaik in hellem Glanz erstrahlen lassen. So ist der Schauplatz der Raumstation Talos I durchweg als Open World angelegt. Darin können Spieler recht schnell überall hin gelangen, sofern sie dem meist verschiedenen Personal die Zugangskarten abnehmen. Überlebende finden sich nur wenige. Zudem stehen zwar mehrere Waffen zur Verfügung, sie sind allerdings vorrangig Werkzeuge. Daher bleiben sie, wie die Rohrzange oder die Kanone, die eine Art Bauschaum verschießt,  in direkten Auseinandersetzungen bemerkenswert schwach. Eine geniale Finte schlägt die Recycling-Granate, die kurzerhand einen Radius von Gegenständen und Gegnern in ein Dimensionsloch saugt, um sie nach ihren Rohstoffen sortiert wieder auszuspucken. Selten wurden so elegant Gegner erledigt und postwendend zur Weiternutzung aufbereitet. Die Umgebung lässt sich ebenfalls kreativ gegen die wabernden Hauptgegner, die Typhons, einsetzen: Gaslecks, funkensprühende Kurzschlüsse, Treibstofflachen – das Spiel erschafft einen gigantischen morbiden Spielplatz. So laden die Waffen eher dazu ein, über Bande zu spielen, als eine direkte Konfrontation zu provozieren.

Was jedoch die atmosphärische Tonlage im Spiel vollständig umwälzt, ist der eigentliche geniale Kniff von ->Prey: Die Mimics, eine niedere Form der gegnerischen Kreaturen, können sich in so ziemlich jeden Gegenstand auf der Raumstation verwandeln. So entsteht eine permanente Unruhe, könnten sich doch die perfiden Viecher beliebig häufig in jedem Raum verbergen. Auch in Schauplätze, die zuvor bereits freigekämpft wurden, krabbeln sie wieder zurück. Einzeln sind sie zwar nicht sehr gefährlich, in Gruppen aber schwer zu fassen. Tödlich geraten sie gar, wenn man sich ohnehin gerade in einem Gefecht mit ihren größeren, wesentlich weniger harmlosen Kumpanen liefert.

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Die eigentlichen Stars von Prey sind die Fähigkeiten der Typhon, nicht zuletzt, weil die Hauptfigur vor der Wahl steht, sich mit ihrer Hilfe zu modifizieren. (Prey Gameplay Trailer #2 | Kanal Bethesda Softworks via Youtube, 25.1.2017)

Aus diesem Grund beginnt man als Spieler irgendwann, jede überzählige Vase argwöhnisch zu beäugen: Hat sie sich nicht gerade im Augenwinkel noch bewegt? Wo kommt der Stuhl her? Moooment, da waren doch eben weniger Tassen in dem Schrank, oder? Eine besondere atmosphärische Tiefe entsteht aber erst, weil ->Arkane noch einen weitereren Kniff im Welt-Design dazu ergänzt…

Hommage-Kaleidoskop

Wer die letzten zwanzig Jahre selbst mit halboffenen Augen die Spielekultur verfolgt hat, wird die vielen Vorbilder in ->Prey wiedererkennen.  Der Schauplatz einer verwüsteten Raumstation, auf der Experimente mit seltsam wabernden Wesen tödlich eskaliert sind, folgt einem Open-World-Ansatz, wie er gegenwärtig in vielen Spielen en vogue ist. Das Szenario aber und das Spielgefühl in der Station erinnern stark an das Weltraum-Schleich-Rollenspiel ->System Shock 2 von 1999, in dem die wahnsinnige K.I. Shodan mit einem gewissen irren Charme ebenfalls eine Raumstation zerlegte (Link via gog.com). Features wie das Reparieren und Hacken von Gerätschaften, Tresoren und Kampfgerät, bot der Klassiker ebenfalls. Selbst die Rohrzange war damals schon dabei.

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Entsprangen die Abgründe im geistigen Vorläufer System Shock 2 aus dem manipulativen Wahnsinn der Künstlichen Intelligenz Shodan, liegt der Horror von Prey im Körper des Protagonisten. (System Shock 2 Trailer | Kanal Gog.com via Youtube, 14.2.2013)

Dass die Hauptfigur ein solches Nahkampf-Werkzeug benutzt, stellt ->Prey in eine lange Tradition, welche die Brechstange des schlagfertigen Wissenschaftlers Gordon Freeman in ->Half-Life im Jahr 1998 begründete (Link via Steam). Hilfreich ist aber, dass die Hauptfigur nun statt eines Brecheisens eine Rohrzange besitzt, denn damit können etwa Geschütztürme instandzusetzt oder funkensprühende Starkstromverteiler repariert werden. Spuren hinterließ auch die Reihe ->Deus Ex, in der seit ihrem ersten Teil ab dem Jahr 2000 das Durchstöbern von fremden Rechnern auf der Suche nach Passworten und versteckten Nebenpfaden zur enormen spielerischen Freiheit beitrug. Beim visuellen Design traf sich der Reboot von ->Deus Ex: Human Revolution wohl mit dem Art Deco von ->Bioshock für ein romantisches Stelldichein. Sie zeugten ->Prey sagenhafte Architektur, die von technisch und funktional in Labors und Wartungsbereichen bis hin zu bemerkenswert edel in mehrstöckigen, repräsentativen Empfangshallen reicht.

Bleibt man fair, muss man zugestehen, dass sich die ->Arkane Studios nicht so sehr bei anderen bedienen. Sie greifen vielmehr auf ihre eigenen Vorarbeiten zurück. An der oben genannten Reihe arbeiteten sie zum Beispiel für ->Bioshock 2 mit. Möglich, dass sie sich neben dem Design der Schauplätze auch von den dortigen Plasmiden für die Neuromods in ->Prey inspirieren ließen. Mit beiden modifizieren sich die Hauptfiguren beider Spiele ständig neu. Auch Parallelen zu ihrer Steam-Punk-Reihe ->Dishonored sind kaum bestreitbar (Link via Steam). Dies gilt für das Figurendesign und moralisch zwiespältige Entscheidungen, deren Folgen schwierig und schon gar nicht unmittelbar abzusehen sind. Auch der kreative Gebrauch von Werkzeugen und Fähigkeiten in der Umwelt erinnert sehr an die Design-Philosophie aus gleichem Hause.

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Sehr viel düsterer als die kräftig gefärbte Raumstation präsentieren sich die Schauplätze in Dishonored. Parallelen aber beim Charakterdesign, bei der Nutzung der Umgebung und moralisch zwiespältigen Entscheidungen sind unverkennbar. (Dishonored 2: Das Vermächtnis der Maske – Launch Trailer | Bethesda Softworks DE, 9.11.2016)

Über die vielen Anleihen an andere bekannte Titel kann man sich nun langatmig beklagen. Oder man erkennt an, dass sich die Versatzstücke gespenstisch passgenau zu einer stimmigen Spielerfahrung zusammenfügen. Wenn man nicht feindselig gestimmt ist, könnte man den Weltraum-Rollenspiel-Shooter-Mix genau so gut als Best-Of von einer zwanzigjährigen Genre-Geschichte begreifen. Dieses Gemisch bietet ohnehin bloß das Fundament, auf das ->Arkane nun ihre speziellen innovativen Säulen errichtet. Und das sind Bauelemente mit gehörigem Einfluss auf die Atmosphäre dieses Spieles.

Mein Feind, die Tasse

Schon früh im Spiel stellt die Hauptfigur Morgan Yu fest, dass nichts in der Umgebung ist, wie es scheint. Seine nähere Umgebung, so viel sei verraten entpuppt sich nach einem beherzten Schlag mit der Rohrzange als kontrollierte Testumgebung für neurologische Experimente. Im Laufe des Spieles wird sich Vieles, was zuvor noch real war, als Spiel mit doppeltem Boden entpuppen.  Das gilt für die Schauplätze, die im buchstäblichen Sinne mit doppelten und dreifachen Böden unterschiedliche Lauf- und Lösungswege ermöglichen. Genau so aber erscheinen die wenigen Überlebenden ständig  in neuem Licht und der eigene psychische Zustand. Schon dadurch erschafft ->Prey eine seltsames unsicheres Gefühl.

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In das Zusammenspiel von Atmosphäre, Spielgefühl und Spielmechanik stimmt ein kommentiertes Video der Entwickler ein. (Prey – 8-minütiges Gameplay-Video | Kanal BethesdaSoftworksDE via Youtube, 2.12.2016)

Dem nicht genug, wird Yu bald mit den kleinen tentakeligen Mimics konfrontiert. Spinnenartig und doch seltsam unscharf an der Realität vorbei wabernd, scheinen sie zunächst einfach nur kleine lästige Kreaturen zu sein, die einzeln kaum gefährlich werden. Zwei oder drei von ihnen zugleich lassen dennoch, gerade zu Anfang des Spiels, Hektik ausbrechen. Die größeren Verwandten schlagen nämlich eine grobe Kelle. Angesichts der mangelnden Durchschlagskraft des eigenen Waffenarsenals muss wohlüberlegt, trickreich und unter Nutzung der Umgebung gegen sie vorgegangen werden. Wenn in den Plan ein paar Mimics platzen, führt das schnell zum Ableben.

Dass sich die subversiven Angreifer in so ziemlich jeden Gegenstand verwandeln können, der nicht an die Grundkonstruktion der Raumstation festgeschweißt ist, ist der eigentliche Clou. Tassen, Treibstofftanks, Zigarren, Lampen – alles kann sich letztlich die Tarnung fallen lassen, sich in Bewegung setzen und hinterrücks angreifen. Dieser Überraschungseffekt nutzt sich vor allem deswegen nicht ab, weil ->Arkane ihn nicht nur geskriptet, bei vorgesehenen Objekten, an festgelegten Orten einsetzt.

Mit großer Akribie haben sie Gegenstände in enormer Vielzahl sinnvoll und glaubwürdig in allen Winkeln der Raumstation platziert. Überall dort sucht sich die KI ihre eigenen Verstecke und verrät sich nur gelegentlich durch plötzliche Hüpfer der Einrichtung. Die Spieler können mit den Objekten interagieren, sie alle aufheben und je nach Gewicht und ihrer Stärke versetzen. Manchmal müssen sie das sogar, um in ein Areal vorzudringen, zu dem jemand zum Beispiel den Zugang mit einer Couch verklemmt hat. Konzentriert auf die Aufgabe, den Weg freizuräumen, bleibt der plötzliche Schreck groß, wenn sich dann der Wandleuchter auf einen stürzt. Hierin dürfte der Grund liegen, weshalb Arkane so viel Energie in die aufwändige Kulisse investiert hat. Das World-Building in der Raumstation verleiht dem Spielelement der diffusen Mimics durch die ungeheure Zahl beeinflussbarer Objekte seine enorme atmosphärische Macht.

Die Tasse in Dir

Raffiniert wird ->Prey zusätzlich auf Ebene der Spielfigur, denn Morgan ist durch die zahlreichen Experimente selbst psychologisch angeschlagen. Er ist zwar einer der Initiatoren der Experimente an den Typhons, hat wohl aber schon mehrfach versucht, aus ihnen auszubrechen. Zahlreiche Hinweise deuten im Spielverlauf darauf hin. Die Experimente erprobten die Neuromods an ihm, welche seine Fähigkeiten auch im Spielverlauf modifizieren. Allerdings erforderten die wissenschaftlichen Untersuchungen, dass sein Gedächtnis stets bereinigt wird. Sein Gehirn wurde quasi stets auf den Werkszustand zurück versetzt. Dadurch weiß er nicht einmal, ob er sich selbst vertrauen kann, wenn er Nachrichten, medizinische Befunde und versteckte Videobotschaften seines früheren Ichs findet. Das Gefühl von Unsicherheit bestärkt dies zusätzlich.

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Morgan steht vor Problemen, die er sich selbst eingebrockt hat. Seine eigenen Experimente löschten ihm stets das Gedächtnis. Um zu rekonstruieren, was geschehen und was zu tun ist, kann er sich leider nicht einmal selbst trauen. (Prey – Official Gameplay Trailer | Kanal Bethesda Softworks via Youtube, 4.8.2016)

Außerdem gehen einige der Fähigkeiten, die ihm die Neuromods verleihen, mit einer Kehrseite einher. Zwar kann Morgan zunehmend die Eigenschaften der Typhons übernehmen, die sich als sehr praktisch erweisen. Unter anderem kann er sich wie die Mimics in Gegenstände morphen, um durch Lüftungsschlitze zu schlüpfen oder eine Weile unentdeckt zu bleiben. Die Metamorphose zu übertreiben, ist jedoch nicht zu empfehlen. Die Abwehranlagen der Station reagieren empfindlich auf genetisches Material der Typhons, das sie außerhalb der Labordistrikte und Eindämmungsfeldern finden. Verwandelt sich Morgan also durch übermäßigen Gebrauch zu sehr in Richtung der Typhons, betrachtet die Station ihn zunehmend als Fremdkörper. Auch dieser Aspekt zeigt, wie sehr das Gameplay in->Prey von der eigenen Spielweise abhängt.

Hinter allem scheint eine tiefere Bedeutung zu stecken, sind doch die Typhons nicht einfach irgendwelche Aliens. Sie stammen nicht aus unserer Dimension. Im Grunde, so erklären Forschungsberichte auf der Talos I, verwandeln sich zum Beispiel die Mimics nicht in einen Gegenstand, sondern schicken ihn kurzerhand in eine andere Raumzeit. Dieses Spiel mit Paralleluniversen ist allenthalben sehr klug mit den Spielelementen verwoben und zudem storyrelevant. Im Universum von ->Prey überlebte John F. Kennedy das Attentat von Dallas, setzte sich danach massiv für internationale Friedensschlüsse und gemeinsame Raumforschung ein und katapultierte damit die Menschheit in der Parallelwelt technologisch nach vorn.

Durch das gesamte Spiel schleichen sich daher nicht nur Morgan und die Typhons, sondern auch derGedanke, ob die Spielwelt vielleicht überhaupt  keine Alternativgeschichte unserer Realitätslinie erzählt. Erzählt es vielleicht eher die eines Paralleluniversums? Und wenn die Typhons über Dimensionen hinweg agieren, woher kommen sie dann? Vielleicht zufällig aus unserer dimensionalen Realität? Hat unsere Realität sie erfunden? Dienen sie einem Zweck? Prey perfektioniert die Spielereien mit der Unsicherheit auf allen Ebenen, auch in Bezug auf die Hintergrundgeschichte, so dass sie als Spielgefühl dauerhaft trägt. In jeder Hinsicht finden sich daher in diesem Spiel immer wieder mehr Tassen im Schrank, als man auf dem ersten Blick gesehen hat.

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