RETRO: Ähhh! Ich muss weg!

Mirror’s Edge ist eigentlich ein innovatives Meisterstück, verrät sich letztlich jedoch selbst


Flink, wendig und tough - mit ein wenig Anlauf ist Faith schwer zu schlagen
Flink, wendig und tough - mit ein wenig Anlauf ist Faith schwer zu schlagen

Mit schwerem Atem hechtet die junge Frau über einen elektrischen Sicherheitszaun, duckt sich unter einem Rohr weg, rutscht über den betonierten Boden des Flachdaches und nutzt den Schwung, um sich in der gleichen Bewegung wieder aufzurichten. Sie federt über einen Müllhaufen auf einen Lüftungsschacht und drückt sich mit gehöriger Sprungkraft vom Boden fort. Unter ihr klafft ein Abgrund von mindestens zwanzig, gefühlten dreißig Stockwerken, während man den Eindruck gewinnen muss, ihr Flug führt höchstens zu einem unansehnlichen Fleck auf dem Asphalt.

Doch mit einem schmerzhaften Stöhnen gelingt es ihr, ein Rohr auf der gegenüberliegenden Hauswand zu greifen. Nach einigen lebensmüden Aktionen über Gerüste, Klimaanlagen und weiterer Rohre, hängt sie schließlich mit einem Stöhnen unter dem Kraftaufwand nur knapp an der Dachkante des Gebäudes. Ächzend zieht sie sich hinauf, als die Rotorblätter eines Hubschraubers donnernd hinter einer Hauswand aufsteigen – im drunter hängenden Helikopter machen sich schwer bewaffnete Sonderpolizisten zum Ausschwärmen bereit. „Beeil Dich Faith, was hast Du nur getan, dass die so schießwütig sind“, bellt eine Stimme aus dem kleinen Knopf im Ohr bei der jungen Frau.

Faith fehlt der Atem für eine Antwort, denn die Kugeln des Bord-MGs schlagen bereits in die Lüftungsschächte neben ihr. Nur nicht Stehenbleiben! Fehlt der Schwung aus dem Lauf, werden Abgründe zu weit und Wände zu hoch. Hektisch sucht ihr Blick den nächsten Pfad, um sich weiter ihrem Ziel zu nähern, wo sie den schwarz-gelben Koffer auf ihrem Rücken abliefern muss. Er enthält Informationen, Geheimnisse, einige der letzten vermutlich, die das glänzende Großstadtparadies noch nicht in seinen subtilen Überwachungapparat aufgesogen hat.


Schwerkraftgesetze waren gestern, wie Faith beweist

Wer hätte gedacht, dass Wegrennen zum Spielinhalt taugt. Die Story von ->Mirror’s Edge jedenfalls fesselt nicht sehr, ist überschaubar erzählt, rudimentär, und hätte viel mehr Potential gehabt. ->DICE hätte dem Spiel mehr zugestehen können. Faith ist eine Runnerin, also eine derjenigen, die unter dem Radar des Überwachungsstaates in einer glitzernden, sterilen, auf Hochglanz polierten Stadt die letzten Übertragung sensibler Daten sichern, in denen der informationsgierige Staat noch nicht herumschnüffelt. Der Spieler lenkt Faith durch immer komplexere Gewirre aus Versorgungsleitungen, Generatoren und Klimaanlagen, verfolgt von Sicherheitskräften und in einem so hohen Spieltempo, das der Atem stockt. Mirror’s Edge hätte ein Meisterwerk werden können, verrät seine innovativen Prinzipien jedoch im Spielverlauf…

Faith hat es nicht umsonst so eilig. Einst gab es eine große Protestbewegung gegen die staatlichen Eingriffe in den Datenschutz, an der Faiths Vater als einer der Anführer beteiligt war, doch das ist vorbei. Diese Vorgeschichte der Familie erläutert der -> Comic zum Spiel, dessen Ende enttäuscht, der aber wenigstens Faiths Motivationen deutlicher werden lässt als das Game. Brutal ging das Regime gegen einen der letzten Proteste vor, scheute sich nicht, Demonstranten zu töten, und sorgte für solche Resignation bei den Menschen, dass sich die meisten mit der Überwachungsdiktatur arrangierten. Was allerdings ein aufrüttelnder Appell gegen den konservativen Zeitgeist eines Schäuble oder eines überwachungshysterischen amerikanischen Staates hätte werden können, bleibt leider größtenteils auf dem Niveau einer bloßen Staffage für Faiths Privatmission stecken.

Doch die Schöpfer der Battlefield-Reihe sind eben nicht bekannt für großartige Geschichten, auch in den Taktik-Shootern ihrer berühmten Serie genügt oft ein Absatz um die Hintergrundgeschichte aufzusummieren. Gemessen daran haben die schwedischen Entwickler dem Publisher ->EA einen passablen Story-Tiefgang verpasst. Faiths Schwester, die für die Polizei arbeitet, gerät als Bauernopfer in einen Mordfall hinein, der einen Politiker daran hindern soll, gewählt zu werden. Dieser war die letzte Hoffnung, den Überwachungsstaat zurückzudrängen, liegt jedoch mit durchschossenem Schädel auf dem Tisch seines Büros. Kate wurde bewusstlos geschlagen, ihre Waffe war das Tatmittel. Da kommt auch schon ein SWAT-Team durch die Fahrstuhltüren – eine perfekt inszenierte Falle.


Mit Schwung kommt man am Besten an - ein Speedrun durch das erste Level

Während Faith also die Dächer der Stadt nutzt, um erst zu entfliehen und dann der Verschwörung gegen ihre Schwester auf die Schliche zu kommen, gerät sie in ein Konglomerat von Repressionisten aus Staat, Bauindustrie, Sicherheitsfirmen und Medien. Dabei wird zunehmend deutlich, dass auch die Runner gespalten sind zwischen Resignation und Kooperation mit dem Staat auf der einen Seite und hartnäckigem Widerstand auf der anderen. Verrat ist fast eine zwangsläufige Folge dieser Lage. Wesentlich mehr hätte aus diesem Stoff werden können, bleiben doch vor allem die anderen Runner farblose Figuren, mit denen man kaum mitfiebern kann – fehlende Mimik, unpassend pseudocoole Gestik zur Vertonung in Zwischensequenzen aus Spielgrafik und eine Präsentation der Hauptstory in einem stocksteifen Comic-Look mit wenig Bewegung entreißen dem Spiel unnötig viel Empathie gegenüber Figuren und Setting.

DICE ist eher dafür berühmt, überzeugende Spielmechanik abzuliefern. In ihrer Serie aus Taktik-Shootern in der ->Battlefield-Reihe schufen sie spielerische Prinzipien, wie sie zu den besten des Genres gehören und nachhaltig andere Titel inspirierten. Zuletzt erfanden die Entwickler sich mit ->Bad Company neu.  Technisch ist auch Mirrror’s Edge tatsächlich eine Meisterleistung. Dabei greift Faith auf ein Repertoire aus Fortbewegungsformen des berühmten ->Parkour zurück, einer Art zu Laufen, die verlangt bewusst nach ungewöhnlichen Wegen Ausschau zu halten. Entstanden in den Pariser Banlieus als cooler Zeitvertreib, ist es wohl zu viel verlangt, von einer Sportart zu sprechen, auch wenn da natürlich die Grenzen im Auge des Betrachters liegen. Ziel ist es eigentlich, möglichst elegant, zügig und in einem Zug unkonventionell über Blumenbeete, Absperrungen, Mauern oder Fassadenelemente vorwärts zu kommen. Der Katalog an Techniken dafür ist beeindruckend, ebenso wie die Videos geübter Traceure – also den heutigen Äquivalenten der im Spiel gejagten Runner.


Spinnerte Lebensmüde oder Beweise für eine unglaubliche Präzisionsfähigkeit des menschlichen Körpers: Parkour ist nichts für schwache Nerven

Wechselseitige Sprünge zwischen Mauern führen geübte Runner auf dem gesunden Menschenverstand widersprechende Höhen, in denen auf dünnsten Rohren über Abgründe balanciert wird. Mit dem eigenen Sprung und trippelnden Schritten über eine Wand gelangen erfahrene Traceure entlang von Mauern über weite Abgründe, auch wenn man eigentlich annehmen sollte, Newtons Schwerkraftgesetze können sich doch nicht so einfach austricksen lassen. Spektakulär ist diese Fortbewegung allemal auch in Mirror’s Edge umgesetzt worden. Präzise lassen sich meist alle Bewegungen umsetzen, wobei besonders je schneller und zügiger die Bewegungsabläufe durch den Spieler gesteuert werden, ein beeindruckender Spielfluss entsteht, der abenteuerliche Manöver ermöglicht. Da stört auch die sich wiederholende Architektur der Gebäude, Schächte und Tunnel nicht, man ist ohnehin viel zu schnell vorbeigerast. Zudem macht auch dieser Spielfluss einen großen Teil der Spannung aus, sucht man mit stockendem Atem und hektischen Blicken den Ausweg aus den Gebäuden. Auch wenn man im Notfall die ungefähre Richtung des Zieles per Tastendruck spendiert bekommt, für den Weg dorthin muss man oft indirekte Klettermöglichkeiten suchen.

Dass die Steuerung des PC gegenüber der PS3 durch bessere Präzision besticht ist grundsätzlich bei den meisten Spielen ein offenes Geheimnis, gerade unter der Hektik durch prasselnde Projektile der Ordnungshüter haben Konsoleros hier Nachteile. Besonders problematisch wird dies, weil die Speicherpunkte teils ziemlich weit auseinander liegen. Allerdings ermöglicht der Neigungssensor des PS3-Controllers ein besseres Gefühl für Balanceakte, da man ihn für den Ausgleich des Gleichgewichtes nach rechts oder links neigen kann – deutlich intuitiver als beim PC. Die Spielprinzipien von Mirror’s Edge sind so fesselnd, dass man es sich kaum vorstellen kann, bis man sie im Eigenversuch erprobt hat, rennt man ja schließlich im Grunde dauernd nur fort.

Das Spiel hätte damit der erste Vertreter eines kampffreien Fluchtspieles aus der Ego-Perspektive werden können – dieser Gedanke jedoch schien wohl dem Publisher oder dem Entwickler zu mutig. Der Effekt war, dass Kampfelemente eingebaut wurden. Faith kann mit einer etwas schwammigen Steuerung gezielte Tritte austeilen, aus dem Lauf in Polizisten hineinspringen oder sie entwaffnen. Hat der Spieler genügend eleganten Spielfluss hinter sich, kann eine Zeitlupe aktiviert werden, die eine Entwaffnung erleichtert. Dabei kann Faith nicht besonders viel Schaden vertragen, so dass Spieler darauf achten müssen, Entwaffnungen immer nur bei einzeln stehenden Polizisten vorzunehmen. Dass diese nicht freiwillig so dämlich sind, liegt auf der Hand. Ein Katz-und-Maus-Spiel folgt, um Polizisten zu isolieren, und sie dann auszuknocken – spannend, fordernd, hektisch – und noch nicht der eigentliche Kritikpunkt.


Der Zwang zum Ballern - das Schiffs-Level als Bruch des Spielprinzips: Ein Video zum waffenlosen Run ist nicht aufzufinden

Kritisch wird es erst, weil Faith die Waffen auch selbst einsetzen kann. Nun ist KEIMLING beleibe kein Pazifist bei Videogames, aber diese Design-Entscheidung unterläuft die grundsätzliche Spielmechanik von Mirror’s Edge. Hat Faith erst einmal eine Waffe in der Hand, kann sie diese fortwerfen, um schneller voranzukommen, allerdings kann sie die Feuerkraft auch gegen die Polizeieinheiten einsetzen. An drei Stellen macht es die Levelgestaltung und das Gegneraufkommen außerordentlich schwer für Spieler, die es eben nicht auf den Tod von Polizisten anlegen: In einem von Autos zugeparkten Ladedeck eines Roll-on-Roll-off-Frachters läßt einem das Level kaum Bewegungsfreiraum, die gepanzerten und schwerbewaffneten Teams zu umgehen und in die Irre zu führen. Erst nach Stunden des Ausprobierens fand KEIMLING einen friedlichen Weg – zumindest einen ohne tote Polizisten.

Allerdings wäre das Vorgehen mit der Waffe wesentlich einfacher gewesen. Dies gilt ebenso wie eine Szene in einem Parkhaus, wo Polizisten sich über ganze Korridore gegenseitig decken und eine Schlüsselszene auf dem Weg zum Dach des zentralen Überwachungsgebäudes. Dort tritt man in einen Serverraum und sieht sich nicht nur gläsernem, deckungsarmen Interieur ausgesetzt, sondern sofort mehrern Polizisten, die man kaum zu entwaffnen schafft, ohne dabei das virtuelle Leben auszuhauchen. Zumal man sich ohnehin eine Waffe besorgen muss, um die Servertechnik in den Ruhestand zu befördern.


Viel Glas, wenig Deckung - ohne Waffengewalt kein Weiterkommen im Serverraum des Überwachungsstaates

Hier waren die Designer einfach nicht mutig genug, zumindest hätte man erwarten können, dass wildes Geballer nicht hätte der einfachere Weg werden dürfen. Dies ist ein Bruch mit der übrigen Inszenierung des Spieles als geschicklichkeitsforderndes Actionspiel, dass vor allem das Auge für die Laufmöglichkeiten schult und mit den nachrückenden Polizisten für den entsprechenden Handlungsdruck sorgt. Sind alle diese Bestandteile noch glaubhaft inszeniert, wirkt die zierliche Faith mit einem Sturmgewehr unter dem Arm mehr als nur aufgesetzt – vor allem, wenn sie es dadurch leichter hat.

Dennoch bleibt Mirror’s Edge ein Meilenstein der Spielegeschichte, weil es sich traute, einen neuen Weg abseits ausgetretener Pfade von Spielelementen zu suchen. Auch wenn der innovative Charakter verwässert wurde, und damit die eigentlichen Spielprinzipien verriet, bleibt es eine mutige Meisterleistung in einem ansonsten vom Mainstream ertränkten Markt. DICE und EA können jedoch vermutlich schon 2011 oder 2012 beweisen, ob sie den nötigen Mut zu einem konsequenten Spiel haben: dann soll der zweite Teil des Spieles erscheinen.

Ein Gedanke zu „RETRO: Ähhh! Ich muss weg!“

  1. Sollte jemand ein Video ohne Tote kennen, bitte unten posten! Bislang habe ich jedenfalls noch keinen Weg ohne erschossene Polizisten gefunden.

    Aber ich gebe nicht auf. Das muss doch auch friedlich zu schaffen sein.

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