INNOVATION: Elex mia doch am Oarsch

Das postapokalyptische Sci-Fi-Spektakel ‚Elex‘ entwirft ein faszinierendes historisches Wissenssystem

[ PC (getestet) | PlayStation 4 | XBox One ]

Der Planet Magallan hat echte Probleme. Historisch gesehen, weil vor Jahrzehnten ein Meteorit in seine Oberfläche schlug, der weite Teile der Infrastruktur wegfegte – so auch die darauf errichtete Zivilisation. Betrachtet vom  sozialen Blickwinkel her, sammelten sich Überlebende in ein paar Gruppierungen, die sehr gegensätzliche Konsequenzen aus dem Untergang zogen. Darüber kreuzen sie nun erbittert ihre Waffen. Und drittens leidet der angeblich so fremde Planet unter ernsten Problemen mit seiner Logik, denn er ähnelt frappierend der Erde und selbst die exotischsten Überlebenden entsprechen weitgehend menschlichem Äußeren. Sie warten auf den Teil, wo es um Geschichte geht, gell, aber da müssen Sie sich noch ein wenig gedulden.

Dieser Beitrag handelt von einem tieferen, einem komplexeren Einblick in das World-Building als eine bloße objektorientierte oder erzählte Geschichte: Die postapokalyptische Welt von Magallan, in der das Open-World Action-Rollenspiel ->Elex spielt, inszeniert ein faszinierendes Wissenssystem wechselwirkender historischer Elemente, aus denen eine spielinterne Erinnerungskultur erwächst.

Von Anfang an lässt sich die Spielwelt in Elex frei bereisen – nur ratsam ist das nicht. (Abb. eig. Screenshot)

Dieser Blickwinkel auf ->Elex eröffnet ein reichhaltiges Geschichtsbuffet: Ruinen erzählen von umwälzenden Ereignissen bereits durch die Anordnung ihrer Trümmer. Ganze Regionen deuten auf die Vergangenheit mithilfe eines ausgeklügelten „Environmental (Hi-)Storytelling“ in den Landschaften. Notizen, Tagebucheinträge und Flugblätter liefern Fragmente zur spielweltlichen Gegenwart und der Vorzeit ihrer Katastrophe. Darüber hinaus deuten die Bewohner Ereignisse und die Vergangenheit im Gespräch aus jeweils individuellen Sichtweisen heraus. Diese wiederum hängen von den Weltanschauungen ihrer Gruppierungen ab. Geschickt füttern die Entwickler auf diese Weise den historisch denkenden Geist mit einer Vielzahl von Indizien auf dem Weg zu einem historischen Verständnis über Magallan…


1. Ruppige Parallelwelt – Der Hintergrund

2. Holprige Triebwerke – Spielmechaniken

3. Leere Leinwand – Charakterentwicklung

4. Heiß serviert oder durch die kalte Küche? – Moralsystem

5. Pfadabhängigkeit – Entscheidungen

6. Das historische Wissenssystem

6.1. Der mikrohistorische Weltentwurf

6.2. Makrohistorische Modelle

6.3. Objekt- und Materialkultur

6.4. Narrative Netzwerke

7. Spielweltliche Erinnerungskultur


1. Ruppige Parallelwelt – Der Hintergrund

Die Parallelen von Magallan mit unserem Heimatplaneten gelten auch für den Umgangston bei Begegnungen in der offenen Spielwelt: die sind etwa so angenehm wie im Feierabendverkehr, am Urlaubsbuffet oder im Rabattverkauf. Spielende können die Welt von ->Elex bereits zu Beginn fast grenzenlos bereisen. Geben sich manche Figuren zwar aufgeschlossen, interessiert und höflich, besteht die Tagesordnung ansonsten aus ruppigem Benehmen, Beschimpfungen und Hinterhältigkeiten. Quasi als Markenzeichen prägt der unflätige Umgangston von jeher alle Spiele des deutschen Traditionsentwicklers ->Piranha Bytes. Mit der ->Gothic-Reihe und den Nachfolgeprojekten der Serie ->Risen schuf das Team Meilensteine der deutschen Spielebranche, die international respektiert werden. Diese Erfolge erreichten das mittelständische Unternehmen aus Essen mit einer erstaunlich überschaubaren Mitarbeiterzahl, vergleicht man sie mit internationalen Großproduktionen.

Das Rollenspiel Elex bietet eine erstaunliche Mischung zwischen Spielstilen und Settings in einer detailreichen Welt voller überraschender Hintergründe (Elex Cinematic Trailer (PS4 / XBox One, Kanal GameNewsOfficial via Youtube, 1.6.2017)

Doch ->Piranha Bytes ist nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt. Nicht bloß ->Elex, sondern im Grunde alle detailverliebten Spielwelten des Entwicklers verströmen den kumpeligen, derben Charme einer spätpubertären Rollenspielrunde. Das ist ein Stil, den man schon mögen muss. Sie leiden zudem alle an einem sperrigen Spieldesign (z.B. die Menüführung), manche Funktionen sind nicht zuende gedacht (Fertigkeiten ohne Relevanz), die Animationen wirken holprig (Kampf) und der Steuerung mangelt es an Präzision (Sprünge). Dennoch fesselt jeder Trip in die weitgehend von Hand gebauten Spielwelten aus dem Ruhrpott. Als Fan erkundbarer offener Welten kann man mit ihren Software gewordenen Exoten nur sympathisieren, selbst wenn die Unzulänglichkeiten, passend zum spielweltlichen Umgangston, zu manchem Fluch verleiten. Die Vision ist stets das Gemälde eines großen Künstlers, in den Kontouren bereits auf der Leinwand zu erkennen – die Ausführung aber wirkt gelegentlich, als wäre sie über die Skizze nicht hinaus gelangt.

Elex zeigte auch dieser Rollenspielrunde seinen derben Charme – und wie unnachsichtig die Spielwelt mit Spielern umgeht. (Abb. eigener Screenshot, Ausschnitt)

Alles, was bisher erläutert wurde, macht ->Elex schon dann zu einem würdigen Vertreter für eine geschichtswissenschaftliche Analyse, wenn man prägnante Vertreter für die technikkulturelle Spielhistorie im deutschsprachigen Raum sucht. Doch die Postapokalypse bietet viel mehr Historisches: Offensichtlich sucht man da trotz aller Parallelen auf Magallan nicht nach der konkreten Geschichte unserer irdischen Realitätsebene. Die fiktive Spielumgebung aber legt grundsätzliche, historische Prozesse an.

Erinnerungskulturelle Wissenssysteme“ taufte ich diesen analytischen Blickwinkel in meiner Dissertation, ->die im September 2019 bei de Gruyter erscheint. Mit ihm wird die Anlage und Funktionsweise historischer Inszenierungen in digitalen Spielen systemisch und vergleichend untersuchbar. Aus einem solchen grundsätzlichen geschichtstheoretischen Blickwinkel auf Prozesse und die strukturelle Anlage erübrigt sich auch die Frage, ob Fantasy oder Science-Fiction überhaupt etwas mit Geschichte zu tun haben. (Spoiler: Haben sie, wie zum Beispiel bei Carl Heinze in Mittelalter Computer Spiele 2012 begründet.)

Für meine Doktorarbeit untersuchte das historische Wissenssystem und die Erinnerungskultur am Online-Rollenspiel ‚The Secret World‘ (DissTSW1 – Erinnerungskulturelle Wissenssysteme – 1 Technikkulturelle Geschichte und Methodik, in: Kanal TheBlitzechse via Youtube vom 23.7.2018)

2. Holprige Triebwerke – Die Spielmechaniken

Schon kurz nach einer einleitenden Film-Sequenz öffnet sich die vielfältige Spielwelt weitgehend unbeschränkt für die Spielenden. Untypisch für ->Piranha Bytes besitzt die Hauptfigur dieses Mal sogar eine Hintergrundgeschichte. Sie wird nicht einfach mit Gedächtnislücken an ein Ufer geschwemmt wie in vielen Vorgängerteilen. Mit einem futuristischen Kampfjet gleitet der männliche Protagonist eingangs als hochrangiger Vertreter des fortschrittlich technisierten, aber gefühlskalten Kriegervolkes der Albs über ein Tal. Unvermittelt fährt ihm eine Boden-Luft-Rakete durch den Rumpf. Getroffen pflügt die Maschine eine lange Furche in einen Berghang. Relativ unverletzt, bloß etwas orientierungslos, entsteigt er den Trümmern und stolpert in die Umgebung. Diese Hauptfigur besitzt sogar einen Namen – Jax – und eine (mäßig) überraschende Familiengeschichte. Sie wird im Laufe der Erkundung der Spielwelt immer wieder in Dialogen und Zwischensequenzen aufgegriffen. Für das hier untersuchte erinnerungskulturelle Wissenssystem bleibt die Inszenierung der Rahmenerzählung jedoch weitgehend ohne Belang – sie lässt sich in diversen Spielemagazinen nachlesen (->Halley, Dimitry: „Elex im Test“ vom 16.9.2017 via Gamestar.de).

Diese Aussicht vor dem Absturz steht stellvertretend für die Optik – den stimmungsvollen Eindruck von der Spielwelt mindern klotzige Objekte und hölzerne Animationen (Abb. eigener Screenshot)

Unmittelbar nach seiner unsanften Landung trifft der Protagonist auf andere Vertreter seines Volkes. Kurzerhand exekutieren sie ihn, denn mit Misserfolgen gehen die gefühlskalten Alb rabiat um. Die zügige Präsenz der Exekutoren am Absturzort aber lässt eine Intrige wittern. Nach einigen Tagen erwacht die Spielfigur allerdings, ihrer Kleider und Ausrüstung beraubt, am Fuße einer Klippe. Dort, inmitten einer abgeschotteten schmalen Schlucht zwischen den Bergen, schult ein Tutorial basale Steuerungsmechanismen, die Erstellung von hilfreicher Ausrüstung und das Verhalten im Kampf.

Letzterer stellt leider die größte Schwäche des Spieles dar – insbesondere in den ersten zehn Spielstunden rauften sich die meisten Spielenden alle verfügbaren Haare: Eine stetig schwindende Ausdauer wirkt ungnädig damit zusammen, dass es zwar notwendig ist, die gegnerischen Bewegungen zu lesen, aber gleichzeitig die Steuerung viel zu träge auf Eingaben reagiert. An sich ist daher auch der Jetpack spielmechanisch eine tolle Idee, da die Spielenden ihn schon früh im Spiel für vertikale Ausflüge nutzen können. Ihn zu steuern aber, gestaltet sich jedoch ebenso ungnädig wie der Kampf. Insbesondere frustriert diese Unzulänglichkeit, wo es erkennbar in der Höhe Interessantes wie ein besonderes Stück Ausrüstung zu entdecken gäbe, die Steuerung jedoch unablässig in den Tod führt.

3. Leere Leinwand – Charakterentwicklung

Neben dem Verlust seiner mächtigen Ausrüstung belastet den Alb zunehmend der Entzug des Elex, das dem Spiel seinen Namen verleiht. Mit dem Meteoriten nach Magallan gelangt, konzentriert sich dieser wertvolle Stoff an vielen Orten in der Spielwelt. Wegen seiner vielseitigen Eigenschaften begehren ihn alle Gruppierungen, nutzen ihn jedoch jeweils unterschiedlich.

Rabiat und gefühlsleer ordnen die Alb alles dem Streben nach Elex unter. Zumindest am Anfang. (Abb. eigener Screenshot)

Die naturverbundenen Technikskeptiker der Berserker etwa kochen den Kristallen eine magische Essenz aus. Wie ein religiöser Kriegerorden organisiert, pumpen die Kleriker die pulsierende Kraft der Kristalle in Batterien für technische Geräte, Kampfmaschinen und Energiewaffen. Die Albs dagegen nehmen das Elex direkt als Nahrung zu sich, wie auch immer sie auf diese Schnapsidee kamen. Je mehr sie sich davon einverleiben, desto mehr wandeln sie sich in gefühllose, berechnende Drohnen. Das Elex besitzt eine Art von Bewusstsein, das zunehmend den Geist der Dronen zu einem Kollektiv beeinflusst. Die Wüstenbewohner der Outlaws nutzen Elex vorwiegend als Währung. Darüber hinaus treffen Spielende auf weitere Untergruppen. Beispielsweise will die kollektive Kontrolle des Bewusstseins bei Abtrünnigen der Alb nicht recht funktionieren. Sie schlagen sich in die Wildnis und rebellieren. Spielende begegnen zudem Ausgestoßenen der Berserker. Deren Verbannung wirkt häufig willkürlich und unnötig grausam. Auch eine Diebesgilde verbirgt sich geschickt unterhalb der besiedelten Oberwelt und zieht in den Konflikten zwischen den Gruppierungen ihre Fäden zum eigenen Vorteil.

Aus der Abhängigkeit der Alb vom kristallinen Wunderstoff folgt ein kluger Kniff der Entwickler für die Charakterentwicklung: Die Gestaltung der Hauptfigur gewinnt damit erhebliche spielerische Freiheit: Durch die Exekutoren von der felsigen Klippe geschossen, hält sich unser Protagonist so unfreiwillig wie bewusstlos in der darunter liegenden Bergschlucht auf. Über längere Zeit nüchtert er aber vom Elex aus. Dadurch verliert er seine typischen Fähigkeiten als Alb, welche auf dessen Konsum zurückgehen.  Auch diese Fähigkeiten lassen sich später wieder erlernen, wenn man denn mit seiner Menschlichkeit dafür zahlen will. Geschwächt vom Entzug, erklärt der Spielstart so logisch, warum ein vormaliger Commander der Alb nun darauf angewiesen ist, sich einer der oben genannten Gruppierungen anzudienen: Aus seiner Schwäche heraus sucht er Verbündete, um sein eigenes Schicksal aufzuklären. Diese geschickte Ausgangssituation macht die Spielfigur trotz der präsentierten Vorgeschichte zu einer fast leeren Leinwand. Auf dieser Leinwand können die Spielenden nun weitgehend nach eigenem Willen pinseln.

Ausgenüchtert vom Elex, bestimmen die Spielenden, in welcher Richtung sich der ehemalige Alb Jax entwickelt. (Abb. eigener Screenshot)

4. Heiß serviert oder durch die kalte Küche? – Moralsystem

Da das Elex maßgeblich die Persönlichkeit manipuliert, ermöglicht dieser Kniff den Spielenden sogar, ihren Protagonisten moralisch und ethisch eigenständig auszurichten. Diese bemerkenswert klugen Entscheidungen des Game-Designs erlauben den Spielenden nahezu frei, ihre Spielfigur und damit ihre Perspektive auf die Spielwelt zu gestalten. Das Spiel selbst nutzt dafür eine Art Moralsystem. Dabei geht es aber dezent vor und zückt nicht einen Holzhammer, indem es moralische Kategorien „gut“ und „böse“ wie in der Reihe ->Mass Effect plump ausweisen würde. Ob eine Entscheidung in diesem Sinne gut oder schlecht war, können Spielende ort erst aus den langfristigen Folgen beurteilen.

Die Kleriker setzen Menschen ohne Ausweis in ihrer Stadt fest. Vielen Gruppen ist das ein Dorn im Auge. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Regeln umgehen, was aber nicht ohne Folgen bleibt. (Abb. eigener Screenshot)

Um diesen Effekt hervorzurufen, entschied sich ->Piranha Bytes für eine Skala, die zwischen den Kategorien „heiß“ und „kalt“ rangiert. Gemeint sind damit eher emotionale Entscheidungen oder primär rationale. Dabei sind nicht notwendig die heißblütigen Taten die besseren, denn Emotionen können empathisch wirken oder grausame Rache befördern. Kühle Entscheidungen können zwar kurzfristig mitleidlos erscheinen, eine harte rationale Abwägung mag sich langfristig jedoch für alle Beteiligten besser auswirken. Dadurch schafft ->Piranha Bytes ein bemerkenswert glaubhaftes Moralsystem, das Konkurrenten haushoch überlegen ist. Da die Outlaws in einer Wüste vor sich hinglühen, die Alb jedoch mit riesigen Maschinen die Gegenden extrem herunterkühlen, um Elex zu gewinnen, klärt sich unmittelbar, auf welche Gruppierungen die Extrema dieser Skala mit dem Finger deuten. Dass der Grundton der Spielwelt ohnehin hinterhältig, ruppig und pampig ist, erschwert die bewusste Manipulation des Moralsystems durch die Spielenden.

5. Pfadabhängigkeit – Entscheidungen

Hat man sich also als Spielerin oder Spieler durch die zähen anfänglichen Stunden gequält – die eine so abschreckend ungnädige Lernkurve besitzen, wie ich sie selten in einem Spiel erlebt habe – zeigt sich ->Elex als ein ungewöhnlich mutiges, einfallsreiches und innovatives Experiment. Durch die genannten Defizite bleibt es allerdings erheblich hinter seinen Möglichkeiten. Viele Spielende dürften schon nach wenigen Stunden dem Spiel den Rücken gekehrt haben. Unter vergleichbaren Spielen finden sich viel zu viele komfortablere Alternativen. Wer sich allerdings durchbeißt, gelangt in eine der vielseitigsten Spielwelten, die Rollenspiele bislang zu bieten haben. Nicht einmal einer Gruppierung muss man sich im Grunde anschließen. Inmitten des Spielgebietes können Spielende alternativ eine verlassene Siedlung wieder besiedeln und aufbauen. Dort können sie dann Gleichgesinnte aus der Spielwelt versammeln.

Wohin sich der Blick richtet, fällt er auf missgelaunte, bärbeißige Unsympathen. Auch im Hauptquartier der Kleriker erfährt Nächstenliebe nur, wer das Knie vor ihren Regeln beugt. (Abb. eigener Screenshot)

Letztlich wählte auch ich deswegen diesen Weg, weil die bestehenden Gruppierungen durchweg nur von Unsympathen regiert werden. Obendrein offenbarten diese Anführer und ihre Herrschaftscliquen recht flexible Einstellungen zu den eigenen Regeln und Ordnungen. Von anderen fordern sie die Einhaltung dagegen pathetisch und drakonisch ein. Oft wirkt sich das spielerische Verhalten gravierend auf die Haltung der Auftraggeber nach Missionen, andere Beteiligte oder sogar nur Passanten aus. Zudem beeinflusst die Summe der Taten, wie Gruppierungen sich gegenüber Spielenden einstellen. Damit verändert sich nicht nur der Spielverlauf und das Konzert aus Missionen, sondern auch die bestimmenden Themen sowie Fertigkeiten und die dafür benötigten Fähigkeiten, die nutzbare Ausrüstung und die sinnvoll zu sammelnden Rohstoffe. Das ist wahrlich meisterhaft! Kurzum ist dieser ernorme Wiederspielwert mit nur wenigen anderen digitalen Spielen vergleichbar.

6. Das historische Wissenssystem

Für meine Doktorarbeit habe ich am Beispiel des Online-Rollenspieles ->The Secret World (Link via Wikipedia) diverse Komponenten herausgearbeitet, aus denen das historische Angebot eines digitalen Spieles besteht. Diese Elemente können in einem Wissenssystem sehr unterschiedlich gewichtet sein und wechselwirken dynamisch miteinander, maßgeblich gesteuert von den Spielenden nach ihren jeweiligen Spielweisen und Interessen. Unter diese Elemente fallen Gebäude, Gegenstände und Materialien als Ausweis einer Objektkultur. Narrative Netzwerke setzen die Spielerinnen und Spieler aus einzelnen Fragmenten zusammen. Makrohistorische Modelle gestalten Gesellschaftsformen aus. Mikrohistorische Weltentwürfe inszenieren meist auf wenigen Quadratkilometern ausgeklügelte alltagshistorische Abläufe. Auch die historische Inszenierung von ->Elex lässt sich entlang dieser Elemente skizzieren.

Meine Doktorarbeit führt den geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand zusammen und schließt dessen Lücken mit einer Vielzahl von Beispielen und interdisziplinärer Hilfe. Daraus entwickelt sie ein Arbeitsmodell zum Erinnerungskulturellen Wissenssystem, das sie am Beispiel von ‚The Secret World‘ erprobt. (Abb. eigenes Foto)

6.1. Der mikrohistorische Weltentwurf

Für den mikrohistorische Weltentwurf bieten die verschiedenen Regionen von Magallan eine erstaunlich facettenreiche Bühne. Spielende beginnen ihre Reise zunächst in einer saftig grünen Region mit Wäldern, vielen Wasserstellen und Sümpfen. Im Süden rahmt sie eine weitläufige, felsige Küste. Sie betreten im Norden eisige Regionen mit schroffen Gebirgen und enormen Höhenunterschieden. Richtung Südosten erstrecken sich wüste Gebiete, an deren südlicher Flanke riesige, verrostete Industrieanlagen verfallen. Rings um einen enormen Krater, möglicherweise nicht der Haupteinschlag, aber dennoch imposant, haben massiv wirkende Kräfte die Infrastruktur wild aufgefaltet. Aus dem aufgerissenen Erdinnern ergießen sich leuchtende Lavaströme.

Überall ragen Landmarken aus den Schichten diverser Vergangenheiten empor und laden zu Erkundungen ein. (Abb. eigener Screenshot)

Die Entwickler lassen diese Landschaften vortrefflich aus sich selbst heraus erzählen. Bei digitalen Spielen nennt sich die Anlage von landschaftlichen Formen, aus denen sich Narrative deuten lassen, ->Environmental Storytelling. Welche Katastrophen sich in der Region des Einschlagskraters zugetragen haben, lässt sich daher nicht nur aus dem aufgefalteten Boden und in Blöcken verschobenen Straßen lesen. Auch im Kleinen zeugen davon verschmolzene Autowracks, zerfetzte Gebäude und menschliche Überresten – bis hin zu Stilleben aus Skeletten, die festgebrannt in der Haltung aus der Zeit ihres Ablebens verharren. Die dort lebenden Kleriker errichteten zudem eigene Landmarken in der postapokalyptischen Phase. Sie weisen zum Beispiel auf vergangene Schlachten mit anderen Gruppierungen hin. So entstehen mehrfache Schichtungen diverser impliziter Vergangenheitsebenen, aus denen die Spielenden eigene Schlüsse ziehen (können). Auf ihrer Reise aus den Gebieten der Berserker gelangen die Spielenden zum Beispiel auf eine steil abfallende Klippe. Dort überblicken die sie die große Wüste im Südosten. Weithin sichtbare Landmarken wie die rostenden Metallkonstruktionen an der Küste, eine verfallene Kuppel, markante Relikte von Windrädern oder eine auffällige grüne Oase wecken die Neugier auf dahinter verborgene Geschichten.

Die gesamte Umwelt verändert sich in stetiger Dynamik. Im Laufe des Spielfortschritts verschieben sich etwa Einflusszonen der Gruppierungen, auch durch das Handeln der Spielenden. Die erzählende Landschaft wandelt ihr Antlitz mit einem Tag-und-Nacht-Rhythmus, der die Umgebung buchstäblich in wechselndem Licht erscheinen lässt. Phänomene des Wetters wie leichter Regen, treibender Schneefall oder Nebel beeinflussen die Wahrnehmung der Umgebung ebenfalls. Bewusst setzen die Entwickler sogenannte Licht- und Soundscapes ein: damit sind gesteuerte Umgebungen aus warmer oder kalter Beleuchtung gemeint, die mit wechselnder Intensität oder Farbgebung unterschiedliche Emotionen hervorrufen sollen. Auf der andern Seite steuern Klänge, Geräusche und Musik die Glaubwürdigkeit des Umgebungseindrucks. Beispielsweise erklingen Musik, Nachrichtensendungen oder Funksprüche stimmig aus Radios, Funkgeräten und Lautsprechern in der Spielwelt. Wenn sich die Geräuschquellen annähern oder entfernen stützen sie zudem eine räumliche Tiefenwahrnehmung. Trittgeräusche lassen Spielerinnen und Spieler unterscheiden, über welches Material des Untergrundes sie laufen. Dadurch helfen die Geräusche dabei, den Avatar als Verlängerung der Körperlichkeit von den Spielenden in der Spielwelt zu begreifen.

Je plausibler dies gelingt, umso stärker wirkt die Immersion. Letzterer Begriff beschreibt das Maß, in dem die Wahrnehmung der lebensweltlichen Umgebung der Spielenden hinter der Wahrnehmung Spielerfigur in der Spielwelt zurücktritt. Was solche räumlichen Umgebungen, Sound- und Lightscapes zu Vergangenheitsatmosphären werden lässt, erforscht zurzeit ->Felix Zimmermann. Das Mitglied im ->Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und digtale Spiele (AKGWDS) erdachte für seine geplante Dissertation zusammen mit dem ->Kulturwissenschaftler Christian Huberts ein geschichtswissenschaftliches Konzept. Im Beitrag ->“It’s the Atmosphere, Stupid“ des Blogs gespielt vom AKGWDS erläuterte er am 2. August 2018 grundlegende Aspekte.

Im Blog des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und digitale Spiele (AKGWDS) erläuterte Felix Zimmermann seine Forschung an historischen Atmosphären. (Abb. eigener Screenshot)

Zu dem Gesamtbild eines lebendigen Weltentwurfes, der in solcher Weise atmosphärisch suggeriert wird, gehören darüber hinaus automatiserte, zyklische Routinen – ein bislang  vernachlässigter Faktor. Entlang dieser Rechenkreisläufe bewegt sich die Flora, wandelt die Fauna und handeln Charaktere, deren Verhalten das Spiel selbst inszeniert. Blumen und Gras wiegen möglichst natürlich im Wind. Tiere und monsterhafte Kreaturen schleichen auf vorbestimmten Wegen durch die Landschaften. Sie reagieren auf Spielerinnen und Spieler, die vorbeistreifen. Dann lösen sie sich aus ihren monotonen Pfaden und suchen beispielsweise den Kampf. All jene Faktoren unterstreichen die Glaubwürdigkeit des Weltentwurfs, denn sie erden ihn in einer lebenswirklichen Erfahrungswelt der Spielenden. Diese Erdung ist wiederum für die historische Inszenierung relevant, erhöht sich doch mit der Glaubwürdigkeit der Spielwelt auch die Anschlussfähigkeit der historischen Inhalte. Eine entscheidende Bedingung für diese Glaubwürdigkeit ist, dass die Spielenden nur einen Ausschnitt des jeweiligen Zyklus wahrnehmen. Dadurch stört die Gleichförmigkeit der Kreisläufe in der Regel nicht die Wahrnehmung.

Bei Spielfiguren, die durch automatisierte Routinen eigenständig von der Software gesteuert werden, bestehen für Entwickler besondere Schwierigkeiten (sog. Non-Player-Characters = NPCs). Die Bewegungsabläufe und anderes Verhalten dürfen so weit wie möglich nicht den menschlichen Eindruck stören. Daher inszenieren Entwickler diese Plausibilität mit großem Aufwand. Händlerinnen schließen nachts ihr Geschäft und legen sich schlafen. Wenn ein Jäger zu einer bestimmten Uhrzeit zur Jagd aufbricht, so ist er auch in seinem Jagdgebiet auffindbar. Schmiede schmieden, Bauern hegen ihre Pflanzen. Zwar gibt es Beispiele für digitale Spiele, die den Aufwand intensiver betreiben. Erheblich stärker als anderswo allerdings lassen die Entwickler von ->Elex automatisierte Gestalten miteinander interagieren. Angehörige von Gruppierungen, sofern sie aufeinander treffen, entfesseln urplötzlich Gefechte. Sie geraten mit dem umherstapfenden Getier in Auseinandersetzungen. Sogar Kreaturen überfallen sich gegenseitig.

Wer sich in die Wildnis schlägt, bereitet sich besser auf Begegnungen wie diese gut vor. Allerdings lassen sich die vielen Feindseligkeiten auch ausnutzen, indem die Spielenden Dritte in Konflikte hineinziehen. (Abb. eigener Screenshot)

Spielmechanisch ist dieser Mut nicht ohne Risiko. Daraus kann folgen, dass Auftraggeber in der Spielwelt von haushohen Raptoren zerfleischt werden, und so ihre Aufträge nicht mehr anbieten. Zielobjekte wie wilde Kreaturen sind vielleicht schon durch andere Kreaturen beseitigt worden. Ärgerlich ist das insbesondere, wenn Spielende bereits eine Mission bewältigt haben, aber die Person nicht mehr unter den Lebenden weilt, welche ursprünglich den Auftrag gegeben hat. Andererseits lassen sich diese Wechselwirkungen auch aktiv durch die Spielenden benutzen, indem sie etwa Kreaturen oder Gruppierungen gezielt zueinander locken, um das Gewirr für ihre eigenen Pläne zu nutzen.

6.2 Makrohistorische Modelle

Handfest streiten die Gruppierungen jedoch nicht bloß um Ressourcen, Einflussgebiete oder persönliche Animositäten ihrer Angehöriger. Im Hintergrund schwelen ideologische Differenzen, die sich in verschiedenen Gesellschaftsmodellen niederschlagen. Die Auseinandersetzungen sind zudem durch Erfahrungen aus vorangegangenen, meist bewaffneten Konflikten festgefahren. In diese Zustände fährt nun die Hauptfigur als Unruhefaktor und bricht die Konflikte auf, ganz gleich auf welche Seite sich die Spielenden schlagen. Allerdings bestimmt ihr Handeln die Richtung, in die sich diese Konflikte entwickeln. In den weiten Landschaften treffen Spielende nicht nur auf verschiedenartige soziale Gemeinschaften, diese leben auch in sehr unterschiedlichen Biomen.

Die Berserker errichten zwischen sumpfigen Tälern und mitteleuropäischen Laubwäldern ihre hölzernen urtümlichen Gebäude auf Hügeln und umgeben sie mit Palisaden. Sie verköpern am ehesten das, was die Spielerinnen und Spieler von ->Piranha Bytes gewohnt sind: Bärtig und in Leder gehüllt, erinnern sie an nordische Waldbewohner eines Fantasy-Mittelalters. Die Männer leben dort mit ziemlich unterrepräsentierten Frauen zusammen. Insgesamt sind Frauen relativ rar in dieser postapokalyptischen Welt. Wenn sie aber auftreten, sind sie meist selbstwusst, wehrhaft und nicht auf den Mund gefallen. Berserker schärfen metallene Klingenwaffen und vertrauen auf ihre Bogenkünste. Zunächst fragt man sich, wie ihre archaische Technologie gegen die technisierten Gruppierungen überhaupt bestehen kann. Jedoch lernt man schnell, ihre dem Elex ausgekochten magischen Fähigkeiten zu respektieren: Um eine ihrer hölzernen Palisaden zu zertrümmern, müssten Soldaten der technophilen Gruppen erst einmal in ihre Reichweite gelangen. Mit quasi magischen Fertigkeiten setzen sie sich erfolgreich zur Wehr. Sie pflegen eine Art Renaturierungsprogramm, mit dem sie die postapokalyptische Welt wieder begrünen und urbar machen. Mithilfe des Elex züchten sie pulsierende Pflanzen, haushohe „Weltenherzen“, die sie an ausgewählten Punkten in die apokalyptischen Landschaften pflanzen. Um diese herum sprießt das Leben und erweckt zahlreiche Kreaturen, und zwar nicht nur liebliche.

Rauhbeinige, naturverbundene Nordmänner und -frauen mit einem Grünen Daumen und unverholenem Machtanspruch sind die Berserker. (ELEX – Gameplay Trailer – Fraktion der Berserker, in: Kanal Piranha Bytes via Youtube vom 4.5.2017)

Dumm nur, dass die Alb ebenfalls riesenhafte Maschinen in die Landschaften setzen, um ihren Rohstoff Elex zu extrahieren. Im nahen Umfeld der Extraktoren herrschen arktische Temperaturen, die weder Flora noch Fauna zuträglich sind. Die gefühlskalten, von einem kollektiven Bewusstsein gerahmten Gemeinschaften der Alb rauben Individuen jeden Raum. Individuelle Regungen müssen sich einer starren Befehlskette und der Kollektivraison beugen. Insubordination bestrafen Alb drakonisch, wie nicht zuletzt die Hauptfigur selbst erfuhr. Angesichts der vielen Todesstrafen haben ihre Armeen ein kontinuierliches Rekrutierungsproblem, das sie durch Expansion zu lösen gedenken. Die Menschen in den betroffenen Gebieten schließen sich ihnen entweder an oder werden vernichtet – in etwa wie bei der Assimilation durch die Borg im Universum von Star Trek. Es fällt nicht ganz einfach, die Gesellschaft der Alb mit irdischen Kategorien zu beschreiben. Handelt es sich um eine Art Oligarchie durch das Bewusstsein des Elex oder ein faschistisches System? Ist die Kritik an ihrem System, dass kommunistische Gleichheit das Individuum aufhebt, damit entbehrlich macht und individuelle Bedürfnisse nichts zählen? Weil explizite Anschlüsse an irdische Ideologien fehlen, ist das schwierig zu bewerten. Gerade diese Unbestimmtheit macht aber das Handeln der Spielenden innerhalb der konkurrierenden Gesellschaften von Magallan umso ungewöhnlicher und spannender.

Ihr Kollektivbewusstsein, angetrieben von der Suche nach einer Droge, lässt die Alb in die Spielwelt ausschwärmen – selbst Spuren des Elex extrahieren sie aus Lebenden. (ELEX – Gameplay Trailer – Die Fraktion der Kleriker, in: Kanal Piranha Bytes vom 11.9.2017)

Die hochtechnisierten Kleriker und die Outlaws empfinden die grüne Natur nicht als Segen, die sich aufgrund der Weltenherzen der Berserker ausbreitet. Und das, obwohl die einen im zerrütteten Ödland nahe dem ursprünglichen Einschlagskrater siedeln und die anderen in einer glühend heißen Sandkiste. Erkennen sie den Versuch der Begrünung durchaus an, verstehen sie das Fortschreiten der Vegetation jeweils als Eroberung durch die Berserker, als Machtanspruch und Bedrohung ihres jeweiligen Gebietes und Lebensstiles. Führt man Gespräche mit den Anführern der Berserker, verhehlen sie tatsächlich nicht, dass sie Magallan auch deswegen begrünen, weil sie diese Transformation durchaus mit einer Erweiterung ihres Machtanspruches verbinden. Wer als Öko-Ingenieur verantwortlich für die Weltenbäume ist, scheint sich diesen Nebeneffekt der Begrünung kleinzureden. Möglicherweise entlastet dieses Verhalten das eigene Gewissen.

Mit ihren ‚Weltenherzen‘ begrünen die Berserker nicht nur die Landschaft, sondern erheben klare Machtansprüche auf diese Regionen – wie hier auf die Wüste der Outlaws. Nicht nur die sind daher wenig begeistert, auch den Extraktoren der Alb kommen sie damit in die Quere. (Abb. eigener Screenshot)

In den trockenen Sandwüsten im Südosten errichten die Outlaws eine Gesellschaft, bestehend aus Clans und Klientels. Im strengern Sinne einem gesellschaftlichen Plan folgen sie eigentlich nicht, sie tun höchstens kund, dass sie keine der Ideologien der anderen teilen würden. Mit ihren sozialdarwinistischen Einstellungen bilden sie Gruppen, die auf Verwandschaften beruhen oder deren Mitglieder sich durch erwiesene Gefallen, rücksichtslosen Egoismus gegen Dritte und den möglichst brachialen Einsatz von Waffengewalt profilieren. Dass Gesprächspartner in allen Gruppierungen die Spielenden für hintergründige Ränkespiele einspannen, lassen besonders die Outlaws erkennen, weil sie es nicht einmal zu kaschieren versuchen.

Bei den Outlaws übervorteilt letztlich jeder jeden. Spielende sollten gut aufpassen, auf wessen Seite sie sich in den Spielchen der clanartigen Meritokratie schlagen. (ELEX – Gameplay Trailer – Die Fraktionen der Outlaws, in: Kanal Piranha Bytes via Youtube vom 20.7.2017)

In einer riesigen Kristallfeste verschanzen sich im Nordosten die Kleriker hinter hohen Mauern und einer quasi-religiösen Ordensstruktur. Aus der Apokalypse und der späteren Zeit überliefert sind ihnen die Weisheiten ihres geistigen Vorbildes auf Papier. Die fragilen Überlieferungen werden in ihren tiefsten Archiven bewahrt. Früh schon können Spielende sich erschließen, dass diese Texte eigentlich recht profane Beschreibungen enthalten, die die Ordens-Kultisten aus einer religiösen Sicht missdeuten. Ob sie diese Überlieferungen nun bewusst instrumentalisieren oder aus einer gewissen Naivität heraus missverstehen, bleibt unklar. Faktisch bauten sie jedoch nach dem Einschlag des Meteoriten ihre gesamte Lebensweise darauf auf. Ihre Zahl aber schwindet stark unter den Konflikten mit anderen Gruppierungen. Dabei helfen ihnen auch die technisch ausgetüftelten Kampfmaschinen nicht, die sie in Gefechten, auf Patrouillen und im Objektschutz einsetzen.

Auf ihrer göttlichen Mission, die Reinheit der Menschheit wiederherzustellen, nehmen die Kleriker es mit dem Freien Willen Andersdenkender nicht so genau, denn für sie führt nur ein Pfad zur Erleuchtung. (ELEX – Gameplay Trailer – Die Fraktion der Kleriker, in: Kanal Piranha Bytes via Youtube vom 11.9.2017)

Insbesondere in den Gebieten, wo sich die Machtbereiche überschneiden, entfesseln die genannten Differenzen zwischen den Gesellschaften heftige Konflikte. In den strittigen Gebieten führen sie zu bizarren klimatischen Kontrasten zwischen Wüsten, Eiswelten und dichten Wäldern. An der einen Stelle stapfen Kampfmaschinen der Kleriker mit surrenden Energiewaffen in die technologiebereinigten Areale der Berserker, ein Weltenherz schafft eine dampfende grüne Oase inmitten sandiger, flirrender Wüsten. Mitten in dieser Wüste wiederum haben die Alb einen Extraktor für Elex errichtet, der in einem fließenden Übergang aus der Sand- eine Eiswüste entstehen lässt. Zwischen den dominanten ideologischen Gruppierungen versuchen weitere, kleinere Fraktionen zu überleben. Abtrünnige Albs zum Beispiel verstecken sich im Exil außerhalb der Eisregionen und arbeiten an einer Rebellion gegen die rigide unerbittliche Kollektivherrschaft in ihrer Heimat. In Kanalisationen und Höhlen verzweigt sich ein Netz aus Dieben und Widerständlern, die nicht nur zum finanziellen Vorteil versuchen, die Gruppierungen zu unterlaufen und Informationen zu handeln.

Geschichtswissenschaftlich betrachtet zeigt die Spielwelt von Magallan somit ein Kontinuum von fließenden gesellschaftlichen Übergänge mit allerhand Grauzonen, die sich stetig verlagern und einander beeinflussen. Die Spielenden selbst beeinflussen maßgeblich durch ihr Handeln, welche Richtung diese Konflikte nehmen und welche gesellschaftliche Form dominieren wird. Auf manche der kleineren Gruppierungen werden Spielende nur stoßen, wenn sie gezielt nach ihnen suchen und sich dann auch noch auf ihre Regeln einlassen. Damit schafft ->Elex zwischen Fantasy-Elementen und Science-Fiction einen beeindruckenden Entwurf interagierender gesellschaftlicher Modelle. Er verweist auf zahlreiche historische Vorlagen, wenn auch keiner der Entwürfe versucht, ein bestimmtes historisches Vorbild exakt nachzubilden.

Überraschend heftig, stellte ich früh im Spiel fest, wirkte sich meine Handeln auf Konflikte aus. Dieses Blutbad hatte ich, ohne aktiv dabei gewesen zu sein, durch meine Entscheidungen mitzuverantworten. (Abb. eigener Screenshot)

6.3. Objekt- und Materialkultur

Zwischen der oben beschriebenen Bühne des Weltentwurfes und den gesellschaftlichen Modellen, die an Ideologien aus der Menschheitsgeschichte angelehnt sind, verknüpfen zahlreiche Artefakte die Spielenden mit vergangenen Ereignissen der Spielwelt. Erwähnt wurden bereits Arrangements wie Skelette, zum Zeitpunkt ihres Ablebens zum Beispiel in Häusern oder Fahrzeugen in einer Art Stilleben verharren. Außerdem knüpfte das beschriebene „Environmental Storytelling“ über Landschaften, Soundscapes und Lichtatmosphären an zurückliegende Ereignisse an.

Überall finden sich darüber hinaus Relikte einer erdähnlichen Gegenwart. Im Spiel räumte das Katastrophenereignis diese Ebene zwar plötzlich ab, sonderlich gründlich ging die Apokalypse dabei allerdings nicht vor. Zwar liegt sie bereits Dekaden zurück, noch immer aber zeugen Gebäude wie Fabrikanlagen, Wohnsiedlungen, militärische Sperrgebiete, Forschungseinrichtungen oder Kraftwerke sowie Infrastruktur aus Brücken, Landstraßen, mehrspurigen Highways oder Rohrleitungen von der einstigen, nun zerschmetterten Zivilisation.

Detailreich zeugen Überreste der Infrastruktur von den Spuren der einstigen Zivilisation. (Abb. eigener Screenshot)

In den Gebäuden lassen sich sogar zahlreiche Haushaltsgegenstände und haltbare Lebensmittel plündern. Fast jede Schublade bietet Besteck, Konserven oder andere Alltagsobjekte. Für ein umfangreiches Handwerkssystem können Spielende daraus Rohstoffe gewinnen, um andere Dinge daraus zu konstruieren – oder sie verkaufen die Beute schlicht bei den zahlreichen Händlern in den Gebieten. Mit den verwendeten Geräten und Gegenständen – leicht verbeult und verrostet – zeichnet das Spiel bereits eine zeithistorische Alltagskultur, die in etwa einer irdischen Gegenwart des westlichen Kulturraumes entspricht. Spuren aus Gegenständen oder Abfällen übernehmen dabei auch eine leitende Funktion, führen sie doch Spielende an interessante Orte.

Mit schlicht drapierten Gegenständen endet die Objektkultur in ->Elex jedoch noch lange nicht. Auf Schreibtischen finden sich Tagebuchseiten, die teils über mehrer Stationen vom Schicksal ehemaliger Bewohner erzählen. Hektisch geschriebene Notizen geben Codes für Tresore an anderer Stelle. Verschlüsselte Positionsangaben führen zu Verstecken von Wertgegenständen, Vorräten oder Waffen, welche die ehemaligen Besitzerinnen oder Besitzer während des Zusammenbruchs zum eigenen Schutz versteckt haben. So mancher Datenträger birgt Texte, die von den Umständen von vor der Zeitenwände künden. Auf Tonaufnahmen künden Botschaften von Hoffnung, Bedauern oder gar einem Letzten Willen. An manchen Orten werden automatische Nachrichten ausgelöst, zum Beispiel in verfallenen Militäranlagen, durch die Spielende sich die Geschehnisse nach dem Einschlag erschließen können.

So manches Relikt birg Hinweise zum Verständnis der Umgebung wie dieses Foto eines Wissenschaftlers. (Abb. eigener Screenshot)

6.4. Narrative Netzwerke

Die fragmentarische Überlieferung durch Objekte bietet zahlreiche, perspektivabhängige Interpretationsangebote, die nicht ganz eindeutig vom letzten großen Element der historischen Inszenierung zu trennen sind: Netzwerke aus vielerlei wechselwirkenden, mehrdeutigen, von Personen interpretierten Narrativen. Da sich die Geschichtswissenschaft zu erheblichen Teilen auf Narrationen konzentriert, versuchen viele Forschende ihr gewohntes Verständnis, wie denn Geschichte zu behandeln sei, auch auf digitale Spiele zu übertragen. So überprüfen sie etwa das Hauptnarrativ eines Shooters auf historische Triftigkeit, beachten allerdings nicht die besonderen Eigenschaften des Mediums dabei. Man könnte sagen, sie versuchen aus ihrem traditionellen, medialen Verständnis heraus, das historische Wesen eines digitalen Spieles zu erschließen – und dieses Verständnis basiert wesentlich auf dem gewohnten Medium Text wie beispielsweise in Büchern.

Dabei vernachlässigen Sie jedoch den mächtigen Einfluss der Spielenden. Sie sind es in den weitaus meisten digitalen Spielen, die während ihrer Spielerfahrung ihre persönliche Erzählung über den individuellen Spielverlauf aus narrativen Fragmenten verweben. Eine offene Spielwelt, die wie Magallan geradezu in einem Meer solcher Fragmente ertrinkt, steht zu dem herkömmlichen medialen Verständnis der Geschichtswissenschaft in einem scharfen Kontrast. Ich zum Beispiel bin ein gründlicher Spieler und sehr interessiert an den Hintergründen und der Erkundung von Spielwelten. Daher habe ich eine Vielzahl dieser Wissensschnipsel eingesammelt. Nach ihnen habe ich sogar bewusst gesucht, am Ende des Spieles blieben dennoch auch bei mir noch viele Fragmente unentdeckt. Manch anderer mag dagegen nicht so viele davon lesen, hört sich aber die akustischen Wissensspeicher an. Spielende, die so konstituiert sind, erhalten damit einen grundsätzlich anderen Eindrück über die Geschehnisse vor dem Meteoriteneinschlag, während des Zusammenbruches und in der Postapokalypse.

Die Vielfalt der Erinnerungsmedien ist groß. Diese Audiologs beispielsweise liegen in den Spielgebieten verstreut. Viele von ihnen stützen nicht bloß funktional die Missionen. Vielmehr tragen sie zum Kontext ihrer Fundorte bei, verfolgen separate Geschichten und unterstützen damit die Vergangenheitserfahrung. (Abb. eigener Screenshot)

So bildet die chronologische Reihenfolge der Entdeckungen und die systematische Zuordnung der nach und nach entdeckten Fragmente aus der Perspektive der Spielenden eine persönliche Geschichtserfahrung in der Spielwelt. Sie ist davon abhängig, wie viele Objekte sie finden, wo entlang sie sich bewegen und wie gründlich und interessiert sie danach suchen. Die Vielzahl der sprechenden Artefakte, ob nun über ihr Arrangement oder explizit durch Text und durch Tonaufzeichungen, bildet auf diese Weise eine spielweltliche Erinnerungskultur heraus, die Spielende verstehen lernen müssen. Dort hinein spielen zudem die oben ausgeführten Weltsichten der Gruppierungen. Sie rahmen die Erfahrung der Spielenden durch eine bestimmte ideologische Tonalität, die in die Interpretation der Netzwerke aus narrativen Fragmenten mit einfließt.

Obendrein ist diese Wahrnehmung erheblich davon abhängig, von welchem Spielertyp die Nutzerinnen und Nutzer einer Spielwelt sind. Game Designer kennen – zugegeben hier in etwas groben Schlaglichtern – Menschen, die wettkampforientiert sind und immer etwas erreichen wollen. Andere suchen den Kontakt zu anderen Menschen in sozialen Gemeinschaften. Dritte, zu denen sicherlich ich zu zählen bin, erkunden vorrangig jeden Winkel der Spielgebiete und versuchen möglichst viele Elemente der Erzählungen zu erfahren. Zusammen mit einem Bewusstsein für die Relevanz der handelnden Spielerpersönlichkeiten beim Zugriff auf eine Spielwelt steckt in dieser Struktur von Netzwerken aus narrativen Fragmenten somit eine wertvolle Erfahrung, die für Spielende als grundsätzliches Verständnis von Geschichte wesentlich ist: Geschichte ist immer abhängig von dem, was überliefert ist, von dem, was man davon überhaupt zugänglich hat, welcher Zugriff dabei interessiert, in welcher Reihenfolge man es entdeckt und wie man die Fragmente selbst gewichtet und kombiniert.

Wie viel man über die Spielfiguren herausfindet, hängt stark vom eigenen Spielstil und persönlichen Einstellungen ab. Duras hier verbarg ein finsteres Geheimnis und stand nach der „Klärung“ … uhm… nicht mehr als Begleiter zur Verfügung. (Abb. eigener Screenshot)

7. Spielweltliche Erinnerungskultur

Die Anlage von Spielen wie ->Elex repräsentiert so recht elegant Prinzipien, wie Geschichte als Deutung von Vergangenheiten grundlegend funktioniert. Vergleichbar inszenierende Beispiele wären das spätptolemäische Ägypten in ->Assassin’s Creed Origins (2017) oder der faszinierende Entwurf einer postapokalyptischen Eisenzeit mit Maschinenmonstrositäten in ->Horizon: Zero Dawn (2017). Die große Macht der Spielenden bei der Ausgestaltung ihrer Geschichtserfahrung liegt im Charakter digitaler Spiele. Er rückt zentral das Handeln der Spielenden in den Mittelpunkt und stellen ihnen dafür enorme Möglichkeitenräume bereit. Nicht zuletzt zeigen die Spielsysteme damit, wie reich an Alternativen historische Prozesse sind, wenn Menschen ihre Macht zu handeln erkennen und ernsthaft wahrnehmen.

Hauptfigur Aloy sucht nach einer Lösung für bedrohliche Entwicklungen in den Überresten einer vormals technisierten Zivilisation. (Horizon Zero Dawn | Launch Trailer | PS4, in: Kanal Playstation Europe vom 24.2.2017)

Oben schilderte dieser Beitrag die Elemente, aus denen sich die historische Gesamtinszenierung in der Spielwelt zusammensetzt. Zum spielweltlichen historischen Eindruck wirken Objekt- und Materialkultur, narrative Netzwerke, makrohistorische Modelle und mikrohistorische Weltentwürfe zusammen. Diese Elemente beeinflussen sich im Spielverlauf stetig und dynamisch. Spielende erkunden etwa ein neues Gebiet, das bestimmte Narrative zum Beispiel landschaftlich oder durch Soundscapes transportiert. Dort finden sie allerhand neue Fragmente wie Artefakte oder Dokumente für ihr eigenhändig gewobenes Netzwerk aus Geschichten. Diese Erkenntnisse wiederum werden in einer Datenbank gesammelt. Dabei begeben sich Spielende in jeweils andere gesellschaftliche Kreise der Spielwelt und sprechen mit dort inszenierten Non-Player-Characters (NPCs). Diese spielweltlichen Personen halten mit ihren Weltsichten über die spielweltliche Gegenwart und die Vergangenheit von Magallan nicht hinter dem Berg.

Auf der Grundlage dieses dynamisch veränderlichen Wissenssystems entsteht also aus der Perspektive der Spielenden eine spielweltliche Erinnerungskultur. Sie untersuchen Objekte, sammeln Erfahrungen, erweitern ihren Horizont und sprechen mit zahlreichen NPCs, die verschiedenste Deutungen anbieten. ->Elex ist eine Erfahrung nur für Einzelspieler, anders als viele andere Spiele heutzutage bietet das apokalyptische Epos keinen Multiplayer-Modus. Insofern bleibt dieses Beispiel bei einer individuellen subjektiven Erfahrung der spielweltlichen Erinnerungskultur. Meine Dissertation untersuchte im empirischen Teil ein sogenanntes Massively-Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) namens ->The Secret World. Historisch in ähnlicher Komplexität angelegt, bereisen Spielende dort sogar die irdische Gegenwart, die zeithistorisch etwa um das Jahr 2010 anzusiedeln ist. In einigen, sehr unterschiedlichen Weltregionen treffen sie auf historische Überlieferungen, Mythen und Legenden. Ein solches Online-Rollenspiel führt prinzipiell die Menschen beim Spielen zu sozialen Gruppen zusammen. An dem konkreten Beispiel ließ sich daher eine Erinnerungskultur nachweisen, die nicht nur aus der individuellen Interpretation des Spielpfades je Spielerin oder Spielerbesteht. Vielmehr kommunizierten die Spielenden über ihre historischen Erfahrungen schon innerhalb des Spieles. So schufen sie eine gemeinsame Erinnerungskultur direkt zwischen Nutzerinnen und Nutzern. Diese Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation über die historischen Inhalte fehlt ->Elex. Allerdings wäre zu überprüfen, ob diese erinnerungskulturellen Austausche zwar nicht innerhalb des Spieles stattfinden, jedoch in Community-Foren ausgelagert sind.

Wenn auch ->Elex also ein postapokalyptisches Szenario in der fiktiven Spielwelt von Magallan errichtet, offenbart seine Grundanlage doch tiefe Einsichten in abstrakte historische Prozesse. Grundlegende Elemente der historischen Inszenierung lassen sich identifiziern, die Ähnlichkeiten zu lebensweltlichen irdischen Geschichtsprozessen aufweisen. Diese systemische Betrachtungsweise erlaubt, neben explizit historisch gemeinten Szenarien, auch grundsätzliche Anlagen von Spielwelten aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive sinnvoll und gewinnbringend zu untersuchen. Dabei rückt die allgemeine Funktionsweise von historischen Prozessen und den dazugehörigen Elementen in den Mittelpunkt, wie sie Entwicklerinnen und Entwickler aus einem Verständnis der zentralen Eigenschaften des Mediums heraus konstruieren.

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Ein Gedanke zu „INNOVATION: Elex mia doch am Oarsch“

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