NEWS: Das andere Ende des Laufes

This War of Mine zeigt die Perspektive der Zivilisten in Kriegsgebieten

Mitten in Shanghai tobt ein übles Gefecht. Schwer schnaufend stürme ich durch das Trümmerfeld, das eben noch ein Einkaufscenter gewesen ist. Das feindliche Panzerteam hat ganze Arbeit geleistet und sogar das ganze Glasdach unter meinen Kameraden weggeschossen. Krachend splittern die Scheiben, ihre gehwegplattengroßen Trümmer zerplatzen ohrenbetäubend auf dem Marmorboden. Als mich das für eine Zehntelsekunde ablenkt, hat ein Schütze von irgendwoher auch schon mein virtuelles Leben in ->Battlefield 4 beendet. Haben sich meine Zähne dann wieder aus der Tastatur gelöst, schweifen in den Sekunden  bis zum Wiedereinstieg gelegentlich die Gedanken ein wenig ab.

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In Shanghai ist die Hölle los, aber inmitten der Großstadt gibt gibt es keine Spur von Zivilisten. (Battlefield 4 Official Siege of Shanghai Trailer / Kanal Battlefield via Youtube)

Das Einkaufszentrum hätte bestimmt so manchen zum Schlendern eingeladen, also, wenn es nicht zum Schlachtfeld geworden wäre. In dieser Gegend, mit all den Bürogebäuden und Amüsiermeilen an der Küste, müssten doch normalerweise eine Menge Zivilisten promenieren. Wo sind denn die alle, während allerlei Kriegsgerät durch die Nachbarschaft rumpelt, Geschosse durch Mauern bersten und Soldaten sich gegenseitig wie am Fließband umlegen. Obwohl das Shootergenre sich technisch um immer realistischere Inszenierungen von Schlachtfeldern bemüht, bleibt die Rolle von Zivilisten vollkommen unthematisiert. Nun kann ich mir lebhaft vorstellen, was die ->Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), dazu zu sagen hätte, wenn zwischen den Spielern Nichtkombattanten verängstigt umherflüchten würden. Vermutlich würde es kurzerhand indiziert. In der Kampagne für Einzelspieler treten sie auch nur in den filmischen Zwischensequenzen in Erscheinung.

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Während die Soldaten draußen kämpfen, bangen in Verstecken die Zivilisten um ihr Leben. (This War of Mine / Kanal 11 Bit Studios via Youtube)

Allerdings ist es ein nicht nur in Videospielen verbreitetes Phänomen, das Leiden der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu verdrängen. Meiner Ansicht nach wäre es daher auch für das Shootergenre gewinnbringend, auf eine respektvolle, reflektierte Art die Rolle von Nichtkombattanten in die Szenarien zu integrieren, anstatt das Problem zu ignorieren. Wie nachhaltig beeindruckend es ausfallen kann, diese Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen und in das Spielerlebnis zu integrieren, unterstrich der Deckungsshooter ->Spec Ops: The Line vom deutschen Entwickler ->Yager, über den ich im Artikel ->DGBL: Der Geruch von Phosphor am Morgen am 15. August 2013 berichtete.

Doch, obwohl das Team sich sehr differenziert und reflektiert dem Thema der Gewalteinwirkung und des Leidens der Zivilbevölkerung stellte, wurde auch hier aus Sicht von Soldaten erzählt. Der Aufgabe, diese Sichtweise auf die eigentlichen Opfer eines Krieges zu verschieben, stellt sich nun aber der Indie-Entwickler ->11 Bit Studios mit ->This War of Mine. Das Videospiel wird nicht die Soldaten, sondern die Lebensverhältnisse von Zivilisten in einem Kampfgebiet in den Mittelpunkt rücken…

Bereits angesichts der Flüchtlingsthematik im Indiegame ->Paper’s Please hatte mein Artikel ->INNOVATION: Thou Shalt Not Pass vom 16. Dezember 2013 gerügt, dass sich hier in den Köpfen Vieler eine geistige Leerstelle unethisch breit macht. Die Realitäten der Phänomene von Zivilisten im Kriegsgebiet, Flüchtlingen und Kriegsverbrechen zu ignorieren, ob nun in Videospielen oder im Alltag, ist der falsche Weg. Erst jüngst hat mich ein Webvideo von der Organisation ->Save the Children sehr erschüttert, das an die Opfer des Syrienkrieges erinnert. Es zeigt je eine Sekunde in einem Lebensjahr eines jungen Mädchens, das offenbar in Westeuropa lebt. Dann bricht ein bewaffneter Konflikt los, der zunächst nur im Hintergrund des Mädchens wahrnehmbar ist, dann zur Flucht führt, in deren Verlauf das Kind seinen Vater verliert und am Ende traumatisiert auf einer Pritsche zittert. Der Spot endet mit den Worten: „Because it insn’t happening here, it doesn’t mean, it isn’t happening.“

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Dass Menschen in Europa unter den Folgen von Kämpfen vergessen wir nur allzu schnell (Most Shocking Second a Day Video / Kanal SaveTheChildrenUK via Youtube)

Das Video trifft eben genau in den Punkt der wohlstandsgesättigten Ignoranz von leider viel zu vielen Menschen. So verwundert nicht mehr, dass in unseren Medien die Berichterstattung über einen Millionen schweren Steuerkriminellen namens Hoeneß aus den Schlagzeilen verdrängt, dass Assad in Syrien mittlerweile die halbe Bevölkerung in die Flucht gedrängt hat und in diesen Tagen zu gewinnen droht. Der verfremdende Effekt, mit dem die Bürgerkriegssituation aus Syrien ins westliche Wohnzimmer verlegt wird, könnte auch bei Videospielen gut funktionieren.

So ist es, wie ich finde, nicht nur legitim, sondern überfällig, dass sich auch größere Produktionen von Videospielen dem Thema stellen. Denn im Kleinen gibt es durchaus schon positive Beispiele. Neben ->Paper’s Please zeigt zum Beispiel auch das österreichische Künstlerteam ->GoldExtra in einem spielenswerten Stück Zeitkritik, in dem MMO ->Frontiers, die Nöte und Sorgen von Flüchtlingen auf ihrem Weg in die Festung Europa. Vor Jahren produzierte ->Serious Games Interactive, ausgegründet unter ->Simon Egenfeld-Nielsen an der ->IT Universität Kopenhagen, ->Global Conflicts: Palestine, um die Lage der Menschen im Nahostkonflikt für Schulen und Universitäten aufzubereiten. Das Spiel schaffte es auch in die Regale des freien Marktes, obwohl es auf der nicht mehr ganz zeitgemäßen Engine des Rollenspieles ->Neverwinter Nights basierte und streckenweise recht dröge war.

Im Browser brillierte ->Darfur is Dying, das 2006 als so genanntes Newsgame Spielern die Härte der Vertreibungen und Morde im Konflikt um die Provinz Darfur im Sudan vor Augen führte. Das Spiel ->Menschen auf der Flucht der deutschen Entwickler von ->Serious Games Solutions in Berlin erhielt 2013 sogar den Deutschen Computerspielepreis in der Kategorie Serious Games, weil es nicht nur, so die Jury, „die Problematik und das Leid von Flüchtlingen durch seine Immersivität emotional nachvollziehbar“ macht, sondern das „Erlebnis im ->missio-Truck […] von einem pädagogischen Programm begleitet [wird]“ und insgesamt zeigt, „wie viel Potential in Computerspielen schlummert“.

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Im Unterrichtstruck der Missio-Gesellschaft wird das preisgekrönte Spiel „Menschen auf der Flucht“ durch eine Ausstellung begleitet. (Menschen auf der Flucht / Kanal Computerspielepreis via Youtube)

Eine gänzlich andere Perspektive wollte da „WarCo“ des australischen Studios ->Defiant Development einnehmen, allerdings ist es bedauerlicherweise sehr still um das Projekt geworden – so still, dass mit einer Veröffentlichung wohl nicht mehr zu rechnen ist (siehe ->NEWS: Camera Obscura vom 1. Juni 2012). Der Titel ist die Kurzform für „War Correspondent“, und so sollte es aus der Perspektive eines westlichen TV-Reporters gespielt werden. Dieser hätte schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen – hilft man einem Mann, der aus ethnischem Anlass halb tot geprügelt wird, oder hält man das Treiben für die Weltöffentlichkeit auf Band fest? Nur dann würde die Entwicklung in dem Land die nötige Aufmerksamkeit erlangen, damit sich das Ausland überhaupt dafür interessiert.

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Von diesem Kriegskorrespondenten war leider schon länger nichts mehr zu hören, obwohl die Perspektive von WarCo hochinteressant gewesen wäre. (WarCo July 2011 / Kanal Defiant Development via Youtube)

->This War of Mine steuert nun mit der Lage der Zivilbevölkerung innerhalb von Kampfgebieten einen gänzlich neuen Aspekt bei: Was ist, wenn man fliehen will, aber sich so tief inmitten der Kämpfe aufhält, dass an eine Flucht nicht einmal zu denken ist? Das Videospiel verzichtet auf eine Egoperspektive, lässt hingegen die Zivilisten nach ersten spärlich kursierenden Informationen aus zweidimensionaler Seitenansicht steuern. Während tagsüber nur unter Inkaufnahme größter Lebensgefahr daran zu denken ist, den Unterschlupf zu verlassen, ist die Dunkelheit der Nacht auch nur bedingt ein Freund. Immerhin gestattet sie überhaupt, lebenswichtige Güter zu beschaffen, ohne welche die Insassen des Versteckes nicht lange überleben werden. Gefahren wie schreiende Kinder zum Beispiel, welche die Gruppe an marodierende Soldaten verraten, könnten den Blick für weitere Nöte und Zwänge öffnen.

Auch wenn gegenwärtig noch nicht viel über die Spielmechanik und Inhalte bekannt ist, scheint es mir doch ein guter Ansatz zu sein, ernsthaft zum Nachdenken anzuregen. Allerdings gilt es nun, das Spiel nicht nur als Mahnmal zu entwickeln, sondern über die Handlungsoptionen der Spielfiguren auch eine tragende Spielmechanik zu konstruieren, die zum ausprobieren einlädt und zum Weitermachen animiert. Wenn die Spieler also nachvollziehbare Optionen haben, ihre Lage, wenn auch nur wenig, zu verbessern. Dann könnte hier ein ebenso spannendes wie lehrreiches Spielerlebnis warten, das auch dem ignorantesten Mitteleuropäer klar machen dürfte, wie es sich anfühlen muss, auf der anderen Seite des Laufes zu stehen.

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