REZ: Aus Scherben einer Karaffe eine Vase bauen (Teil 3)

Carl Heinze entwickelt erstmals ein begründetes Modell, um historische Videospiele zu diskutieren – im Detail blendet er sich damit jedoch selbst


>>>Teil 1: Heinzes Modell…
>>>Teil 2: … und Heinzes Schlüsse
>>>Teil 3: Die Folgen von Heinzes Thesen und wie sie zu bewerten sind

Mit seiner Dissertation hat Carl Heinze ein Modell dafür vorgelegt, was historische Videospiele sind und wie sie aus Sicht der Fachwissenschaft zu diskutieren sind. Nachdem ich in Teil 1 dieser Reihe sein Modell erläuterte und in Teil 2 ausführlich die Argumentation und Schlussfolgerungen zusammenfasste, möchte ich in Teil 3 nun  diskutieren, welche Folgen Heinzes Modell für seine Untersuchungen hat und welche Kritikpunkte anzubringen sind.

Modell, abgeschminkt

In den zurückliegenden beiden Beiträgen habe ich sehr ausführlich das Modell vorgestellt, wie Videospiele und insbesondere historische Varianten aus der Sicht von Carl Heinze zu verstehen sind. Hierfür habe ich nicht ohne Grund auch einen erheblichen Teil des Textes darauf verwendet, seine Grundannahmen und Einflüsse darzustellen. Sie prägen nicht nur, welche Titel Heinze als historische Spiele im analytischen Teil seiner Arbeit bespricht, sondern auch, wie er sie bespricht. Deshalb war es mir ab einem gewissen Zeitpunkt der Lektüre auch wichtig, meine Rezension in diese drei Abschnitte zu unterteilen und meine persönliche Einschätzung dazu in diesem letzten Beitrag zu konzentrieren. Dies geschieht in der Hoffnung, dass die Leser nicht bereits zuvor durch eingestreute Wertungstendenzen beeinflusst werden. Ich hoffe, dass mir dies gelungen ist.

Denn prinzipiell bin ich sehr dankbar dafür, dass Heinze erstmals versucht, ein würdiges allgemeines Analysemodell zur Diskussion zu stellen. Umso mehr, als dass es sich traut, die theoretischen und methodischen Chancen und Beschränkungen aus den Grundeigenschaften des Mediums und der Geschichtskultur abzuleiten und zu vereinen. Damit geht er weit über eine verbreitete, unreflektierte Phänomenologie hinaus.

Das ist mir nicht zuletzt deswegen wichtig hervorzuheben, weil ich selbst in meiner Dissertation den Blick fort von deskriptiven, wenige Einzelfälle betrachtenden geschichtswissenschaftlichen Darstellungen hin zu grundlegenden Methoden, Prozessen und Eigenschaften von Videospielen lenke – in meinem Fall an den von Heinze ausgeschlossenen Online-Rollenspielen (MMORPGs) und Virtuellen Welten (S. 66-73, bes. 73). Es ist mir also ein elementares Anliegen dieser Rezension, dass sein Modell differenziert behandelt wird, um ihm seinen angemessenen Platz im geschichtswissenschaftlichen Theorie- und Methodendiskurs zu Videospielen einzuräumen

Dies bedeutet natürlich nicht, dass es an Heinzes Modell und seinen Grundannahmen nichts auszusetzen gäbe. Diese Rezension ist schließlich ein Ausweis davon. Seine Aufbauschritte enthalten aus meiner Sicht trotz solider Grundannahmen einige Denkfehler. Zudem werden die drei Bestandteile seines Modells – >Computer<, >Mittelalter< und >Spiele< – nicht gänzlich überzeugend verknüpft. Letztlich ergeben sich dadurch Konsequenzen, die ihm einen sehr speziellen Blick auf seinen Analyseteil und die dort diskutierten Beispiele verleihen. Dieser erscheint mir nicht immer vorteilhaft.

Diese Vorwürfe will ich nun aufschlüsseln, allerdings ist klar, dass ein Blogbeitrag wie dieser auch nicht alle problematischen Details und alle meine Überlegungen dazu aufnehmen kann. Dafür ist hier schlicht nicht der Platz. Ich werde mich daher auf wesentliche, systematische Kritikpunkte beschränken. Daher kann ich alle Leser nur anregen, Heinzes Buch den Fachbibliotheken zur Beschaffung vorzuschlagen und sich selbst ein Wochenende intensiv durch seine Argumentation und seine Fussnoten zu arbeiten.

Und zuletzt: Zum Ende dieses Beitrags gilt es, das in der Überschrift benutzte Bild aufzulösen: Was hat Heinzes Modell damit zu tun, wie man aus den Scherben einer Karaffe eine Vase konstruiert? Ich werde das beantworten…

Modell im Schaufenster

Grundsätzlich ist es schon einmal gefährlich, der historischen Wissenschaft implizit ein allgemeines Behandlungsmodell für digitale Spiele aufzustellen. Mir ist zwar bewusst, dass Heinze kennzeichen will, was ein historisches Spiel ausmacht und wo die Historie in einem solchen Spiel Eingang findet, damit lässt er die Betrachtung des Nutzers jedoch außen vor. Obwohl natürlich wichtig ist zu erkennen, was bei einem bestimmten Spiel das Historische ausmacht, ist damit jedoch noch nicht gesagt, dass bei jedem Nutzer die Inhalte auch in der Vollständigkeit ankommen, wie es das Spiel anbietet, oder auch nur in der Weise, wie es von den Entwicklern intendiert ist. Immerhin könnte, gerade bei Open-World-Titeln der Spieler Bestandteile gar nicht erleben oder Erlebtes nicht wirklich wahrnehmen, andererseits hängt das historische Erlebnis sehr von seinem individuellen Wahrnehmungsfilter ab.

Wenn man sich denn bewusst ist, dass historisch inszenierende Videospiele von einer ungeheuren Vielfalt sind, die auch eine so detailreiche Analyse von Einzelbeispielen wie bei Heinze nicht vollständig erschließen kann, stößt man schnell an Grenzen der Aussagekraft. Dabei hätte er gewarnt sein können, zitiert er doch selbst Franz Mäyrä, der in seiner Einführung zu Game Studies hervorhob, dass Konzepte, die das eine Spiel sinnvoll beschreiben, das andere überhaupt nicht überzeugend erfassen wollen (Mäyrä, Frans: An Introduction to Game Studies. Games in Culture, Los Angeles 2008; S. 3).

Seine Analyse auf Basis eines Modells, das lediglich das Objekt beschreibt, nur am Rande jedoch das Subjekt ist jedoch problematisch. Heinze erweckt damit den Eindruck, dass seine empirischen Beobachtungen allgemeine Gültigkeit hätten, quasi reproduzierbare empirische Ergebnisse auf Basis einer sachlich richtigen Vorstellung von einem Untersuchungsgegenstand wären. Zwar fehlen – wie erwähnt – Analysen der Rezipienten und ihrer kulturellen Verständigungsgemeinschaft, Heinze hätte seine eingeschränkte Perspektive jedoch im Abschnitt zu Rezipienten (S. 124-126) deutlicher hervorheben müssen, um seine gesamte Arbeit besser einzuordnen.

Dies wäre umso wichtiger gewesen, als sich seine Ausführungen zu Geschichte im Videospiel, Geschichtskultur und Erinnerungskultur und Populärkultur (v.a. S. 23-30 und 77-94) sehr auf wissenschaftliche und populäre Wissensbestände konzentrieren, also auf die historischen Gegenstände eines Spieles. Natürlich ist ein solches Vorgehen in Ermangelung von subjektorientierten Untersuchungen zu historischen Wissensbeständen plausibel, seine Konzentration auf das Objekt erweckt jedoch für die folgende Analyse den Eindruck absoluter Aussagen. Notwendig wäre gewesen, darauf hinzuweisen, dass selbst auf Basis seines Modells die empirischen Ergebnisse nicht notwendig verallgemeinerbare Gültigkeit haben.

Der Nutzer verschwindet in seinem Modell sogar hinter allgemeinen Wissensbeständen, wie im lebensweltlichen Bezugsrahmen in der gezeigten Abbildung des Modells auf S. 102 zu sehen ist. Historisches Wissen ist Teil dieser Wissensbestände. Was der Spieler selbst damit anfängt, verliert Heinze leider aus dem Blick und ordnet so auch seine eigenen Ergebnisse nicht relativierend als individuelle Sicht auf den Gegenstand „Historisches Videospiel“ ein. Das ist eine bekannte Gefahr eines Modellentwurfs, in die er sich selbst manövriert.

Letztlich bleibt von dem Entwurf nur eine Rechtfertigung übrig, warum man als Historiker sich mit dem Gegenstand befassen sollte. Immerhin liefert er so ein diskussionswürdiges Konzept, um Videospiele aus historischer Sicht in der Fachwissenschaft zu besprechen. Das Modell steht jedoch ziemlich neben der späteren Analyse, deren Methodik er in einem gesonderten Abschnitt festzurrt (S. 109-31). Schlimmer noch, er blendet sich in ein paar Punkten mit seinem Konzept selbst.

Nieder mit dem Diskretismus

Zwar ist es sicherlich vernünftig, einen Schritt zurück vom Gesamtbild zu treten und sich die Bestandteile genauer anzusehen, in einem schlummert jedoch eine bedeutende Sollbruchstelle. Heinze trennt seine Modellentwicklung unter dem Schlagwort >Mittelalter< in eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung von populären und fachlichen Mittelalterkonzepten, gibt zweitens einen Überblick über die analoge wie digitale Forschung zu >Spielen< und betrachtet drittens den zugrunde liegenden Apparatur >Computer< aus formaler, logischer und spielerischer Perspektive. Für diese drei Säulen ist er prädestiniert, da er nicht nur historisch und literaturwissenschaftlich ausgebildet, sondern auch Informatiker ist. So kommt er den formalen und systemischen Grenzen der Appartur auf die Spur und folgert daraus, welche Bedeutung diese Grundlagen für das spiellogische System sind.

Seinen Ausführungen hierzu kann man in weiten Teilen auch folgen, bedingt doch das formale System einer Rechenmaschine die Spielumgebung und damit auch die Art und Weise wie Geschichte überhaupt nur dargestellt werden kann. Diese Sicht ist recht gewinnbringend und rückte zuvor noch nicht im Zusammenhang mit historischen Inszenierungen in den Blick der Geschichtswissenschaft. Allerdings geht er mir zu weit, wenn er daraus ableitet, ein Spiel könne daher auch nur diskrete Zustände abbilden. Als diskret wird ein System bezeichnet, das zum Beispiel aus Zahlenwerten besteht, abzählbar ist und eindeutig. Formal können Funktionen, also in diesem Fall Programmbefehle oder Objekte wie Grafiken oder Inhaltstexte, vom einen Objekt eines solchen Systems auch nur in einen anderen diskreten Zustand verweisen.

Für Heinze erklärt dieser Umstand, dass Videospiele zu tabellarischen und numerischen Darstellungen neigen, die in sich abgeschlossen und schlüssig sind. Weil aber unscharfe Zustände, offene Verweise oder gar widerstrebende Wertungen in solchen Systemen nicht handhabbar wären, seien Konzepte wie Freundschaft, Verwandschaft oder gar historische Lebenswelten eben nur schwer in eindeutige Zahlen zu fassen. Dadurch würde die Tendenz von Videospielen zu wirtschaftlichen Systemen oder militärischen Konfliktsimulationen erklärlich. Auch aus diesem Grund hätten Spiele Schwierigkeiten mit Religiosität als Thema, wodurch sich allgemein ein sehr säkuläres Bild des Mittelalters festmachen ließe. Dessen Konzepte orientierten sich so an eher frühneuzeitlichen oder kapitalistischen historischen Denkweisen.

Aus dieser Perspektive liegt für ihn auch nur wenig Nutzen darin, Geschichte in Form von Rechenmodellen oder Spielmechanik abbilden zu wollen. Das „Diskretisierungsgebot“ beschränke Weltentwürfe in Videospielen maßgeblich. Der Grund für die stark materialistische Darstellungsweise von Geschichte in Videospielen liege ebenfalls darin. Chancen räumt er der historischen Perspektive hauptsächlich durch narrative Elemente in progressiven Spielformen ein (S. 304) – und eben hier irrt er prinzipiell.

Dass die Grundlagen eines Spieles auf diskreten Systemen wie einem Computer basieren, muss auch im Falle von Spielmechanik und Modellen nicht bedeuten, dass die dargestellten Spielelemente und das Spielerlebnis keine vieldeutigen Konzepte transportieren können oder unscharf sein mögen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Zerlegt man ein Auto in alle seine Bestandteile und legt sie sauber auf dem Boden einer Werkstatt aus, ist jedes Element der Menge >Auto< abzählbar und eindeutig – dennoch fährt es nicht. Setze ich nun die Bauteile wieder zusammen, kann ich damit erheblich mehr anfangen. So ist es letztlich auch bei einem System diskreter Zustände, in dem ich auf höherer Zuordnungsebene komplexeres Verhalten erreichen kann. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Natürlich betrifft dies nicht die zugrunde liegende Apparatur des Computers, die Spielebene trotz formaler Bezüge auf die Apparatur jedoch schon, auch weil den Elementen erst jetzt die historische Bedeutung zugeordnet wird.

Die berühmte Reihe ->Die Sims ist ein gutes Beispiel dafür, in der es vordergründig werfrei um eine Lebenssimulation geht. Ein Sim, wie die Bewohner der Welt heißen, lernt Umgangsformen, berufliche Fertigkeiten und soziale Skills, steigt so beruflich auf, verdient dadurch mehr Geld und zieht los, um andere Sims auf Partys kennenzulernen. Letzteres fällt ihm oder ihr umso leichter, je besser die Wohnung ausgestattet ist und je besser die Karriere läuft. Dieses Modell lehrt seine Spieler eine besondere westlich-kapitalistische Haltung, geprägt vom ->Gerechte-Welt-Glauben, den gesamten Alltag auf den Beruf auszurichten, um Geld zu verdienen, sich dadurch anpassen zu können, so sozial zu gefallen und aufzusteigen. Diese Zusammenhänge transportiert aber erst die Summe der Einzelteile. Wenn Heinze ->Die Siedler – Aufstieg eines Königreichs (2007)  und ->Anno 1404 (2009) frühneuzeitliche Wirtschaftsformen attestiert, gesteht er unterschwellig selbst ein, dass dies möglich ist.

Postmoderne Tugenden

Dass Heinze also aufgrund der diskreten systemischen Grundlagen Anleihen der Videospiele an die überholte Historische Ökonometrie sieht, erscheint mir da sehr unfair. Es geht Videospielen nicht um den prognostischen Anspruch dieser Teildisziplin, gesellschaftliche Entwicklungen beschreiben zu können. Der wesentlichste Unterschied ist aber, dass digitale Spiele nicht eine Gesellschaft analysieren, um daraus historische Prozesse und Zustände abzuleiten, sondern sie modellieren eine historische Vorstellungswelt, was genau der entgegengesetzte Ansatz ist. Es gibt also keinen Drang zur Cliometrie, also den, eine Geschichte in Zahlen (er)messen zu wollen, Videospiele versuchen hingegen Religion oder Kultur durch Zahlenketten und Bezüge zu abstrahieren, die ihnen Bedeutung verleihen.

Unschärfe und Mehrdeutigkeit können sich daher auch in einem Videospiel systemisch ergeben. Hierbei ist die Seite der Wahrnehmung durch Rezipienten oder Spieler wieder bedeutend. Während zum Beispiel bei einem Brettspiel nur eine relativ kleine Anzahl von Elementen und Regeln überschaut werden muss, kann im Falle eines Videospieles Unschärfe durch Unendlichkeit erzeugt werden. Um wieder in einem Bild zu sprechen: eine Grafikkarte und ein Monitor können sich noch so sehr anstrengen, eine schräge Kante enthält aufgrund der berechneten Pixel immer Stufen. Je mehr technischen Aufwand ich in eine bessere Auflösung investiere, umso eher macht das Auge daraus eine glatte Linie. Mit erheblichem Aufwand und Rechenleistung verbessert dies die Hardware mithilfe von Kantenglättung, die man für Videospiele einstellen kann.

Man muss nun Heinze recht geben, dass formal immer noch diskrete Zustände entlang dieser Kante vorliegen, wahrnehmbar indes sind sie so nicht mehr. Analog wäre diese Lösung auch auf Daten anwendbar, die historische Aspekte tragen. Wenige von Krankheit siechende Kinder in einer mittelalterlichen Stadt sind bedauerlich, eine Vielzahl von ihnen über eine Vielzahl an Städten können eine Aussage über allgemeine Kindersterblichkeit sein. Unschärfe und Mehrdeutigkeit können neben der obigen Unendlichkeit zudem durch verschränkte Systeme eines oder mehrerer Modelle entstehen. Zudem ist die Verarbeitungsfähigkeit des Individuums, das spielt, gerade bei Echtzeiteindrücken nur begrenzt. Unschärfe und Mehrdeutigkeit können auch dadurch entstehen, dass der Spieler die Spielwelt nie ganz erfassen kann.

Kontrollfiktionen

Gerade aus dieser Sicht kann ich Heinze auch nicht zustimmen, was er im letzten Kapitel zu „Kontrollfunktionen“ (S. 273-295) schreibt. Obwohl seine Argumentation im Strategiespiel ->Medieval II – Total War (2006) reizvoll die Funktionslogik eines Büroalltages herausarbeitet und wegen der zahlreichen Verwaltungsprozesse möglicherweise viel für diese Sicht spricht, kann ich bei der umfassenden Kontrolle durch den Spieler nur begrenzt zustimmen.

Sicher: Die Systeme eines solchen Spieles sind darauf angelegt, möglichst viele – auch numerische – Informationen bereitzustellen. Sicherlich gibt es einige Spieler, die große Teile der Spielmechanik und der Informationsflut so weit durchschauen, dass sie Ereignisse bewusst herbeiführen können oder die Taten des Computergegners vorausahnen. Dass sich aber ein computergesteuerter Gegner in jedem „neuen Durchlauf identisch verhalten wird“ (S. 281), wenn selbst solche Spieler einen Spielstand neu laden, ist keineswegs so. Zu vielfältig sind besonders auf den Schlachtenkarten die äußeren Einflüsse auf das Schlachtfeld und die Interdependenz des taktischen Verhaltens.

Ganz so zwangsläufig operiert auch ein formelgetreues System nicht, wie Heinze den Eindruck erweckt. Zwar dienen alle Anzeigen dazu, dem Nutzer Handlungsoptionen aufzuzeigen, aber dadurch wird noch lange nicht „durch die vielen Übersichten, Menüs, Regler und Ansichten […] das formale Spielsystem sichtbar und kontrollierbar“ (S. 293). Heinze macht es sich zu einfach, wenn er die Formallogik des Rechners mit dem Regelspiel so eindeutig gleichsetzt. Nicht umsonst schreibt zum Beispiel Rolf Nohr vom „Verschwinden des Gemachten im Spiel“ (Rolf F. Nohr: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Spiel (=Medien’Welten, 10), Münster 2008).

Religiöse Beleuchtung

Vielleicht ist es auch sein Hang zu diesen formalen Spielsystemen, die ihm den Blick dafür versperrt, dass Religiosität sehr wohl eine Rolle auch in den von ihm angesprochenen Videospielen innehat. In ->Medieval II – Total War ist die päpstliche Rolle keinesfalls nur von einer verwaltungstechnischen Bedeutung. Sie ist vor allem machtpolitischer Natur, hat dadurch aber auch eine lebensweltliche Bedeutung für die Darstellung des Mittelalters. Selbst das Fanal der Exkommunikation wird in spielmechanischer Sicht abgebildet, weil ein Reich, dessen Fürst nicht den Wünschen des Heiligen Stuhls folgt, für andere Mächte vogelfrei wird. Gleichwohl ist Religiosität damit nicht als kulturell bedeutendes Phänomen auf kleinerer mitmenschlicher Ebene abgebildet.

Dies aber übernimmt durchaus ->Assassin’s Creed, das er ja ebenfalls als Beispiel vorstellt. Zwar ist ihm natürlich recht zu geben, dass auch hier nur an der Oberfläche von Mentalitäten und religiösen Riten gekratzt wird, dennoch bedeutet die Darstellung von Symbolik, die religiösen Motive in der Sprache oder das vermeintlich moralisch gute Handeln der Hauptfigur in dem zeitlichen Kontext von 1191 eben auch einen Zugang zu religiösen Vorstellungswelten.  Auch die wandelnden Mönche, unter denen sich die Hauptfigur verbergen kann, oder die Existenz verschiedener Ritterorden zeugt davon. Das mag nicht ausreichend sein, um ein dem mittelalterlichen Kontext genügendes Bild in aller Breite zu zeichnen, dennoch ist Religiosität als Phänomen vorhanden.

Insofern ist verwunderlich, das die Darstellung einer spätmittelalterlichen Stadt in ->Die Gilde 2 so lobende Worte findet, wo doch eben hier die Karriere des Priesters ebenso behandelt wird wie die eines Handwerkers. Der Spieler kann diesen Beruf ergreifen, wodurch die Kirche zum Karrierebetrieb wird. Mir ist nicht verständlich, warum es sich bei so einem Umgang mit Religion dann eher als bei den obigen Beispielen um eine plausible mittelalterliche Darstellung handeln sollte.

Der kleine Ausschnitt

Im Kern macht Heinze diese Sicht daran fest, dass in ->Die Gilde 2 die Lebenswirklichkeit einer kleinen mittelalterlichen Gemeinschaft passabel simuliert werden würde. Der Vorteil für historische Inszenierungen sei ein kleiner Ausschnitt. In Teilen ist ihm da sicherlich zuzustimmen, dass Mentalitätsgeschichte oder Alltagskultur möglicherweise vorteilhafter auf kleinen Skalen darstellbar sind.

Doch was ist mit größeren Zusammenhängen – mit dem mittelalterlichen Gesandtenwesen, mit militärischen Feldzügen, Verwerfungen religiöser Institutionen mit der königlichen Macht? Der Vorteil des Kleinen Ausschnitts kann sich nur auf das beziehen, was auch kleinteilig darstellbar ist. Sicherlich kann nicht prinzipiell behauptet werden, ein kleiner Ausschnitt der Geschichte sei aussagekräftiger und plausibler als ein großer. Es kommt eher auf das an, was dargestellt werden soll. Letztlich ist dies wie in der Geschichtswissenschaft, wo große globalhistorische Entwürfe ebenso eine Berechtigung besitzen wie kleinteilige Spezialstudien. Je weiter man von einem Gegenstand zurücktritt, umso mehr ist jedoch zu abstrahieren und zu ordnen, will man noch eine Aussage treffen.

Die These vom „Kleinen Ausschnitt“ sorgt auch deswegen bei mir als Leser für Stirnrunzeln, weil in diesem Abschnitt unter anderem die Kategorie Geschlecht diskutiert wird. Heinze resumiert: „Anstatt sich an einem Spielsystem mit geschlechtssensiblen Mechaniken und Spiellogiken zu versuchen […], marginalisiert man weibliche Akteure lieber […] [o]der nimmt eine durchgehende Gleichbehandlung von Männlichem und Weiblichem in Kauf[.]“ (S. 266/67) Angesichts dessen und anderen Ausführungen zu Berufen und sozialem Stand scheint mir die obige These vom Vorteil des Kleinen Ausschnitts in Videospielen doch sehr gewagt.

Reine Fantasy

Ein gewagtes Manöver ist es auch, fantastische Weltentwürfe mit in die Untersuchung einzubeziehen. Heinze nimmt ->Drakensang: Am Fluss der Zeit mit in die Reihe der zu diskutierenden Videospiele, das auf dem Regelwerk von ->Das Schwarze Auge basiert. Mit diesem Spiel erläutert er, wie wichtig ein Hintergrunduniversum für eine kohärente Spielwelt ist. Auf diese Weise führt er auch geschichtswissenschaftliche Wissensbestände über „Geschichte als Universum“ als notwendigen Referenzort für Spieleentwickler ein.

Das Beispiel von Drakensang allerdings zeigt, wie wichtig eine rezipientenorientierte Einordnung gewesen wäre. Ich selbst kann nicht akzeptieren, dass dieses Fantasyrollenspiel jenseits reiner Sachkultur ein Mittelalter ausweisen soll. Es ist eine andere, eine fiktionale Welt, die sich Anleihen an Mittelalterbildern geholt hat, wie die Entwickler des ursprünglichen DSA zitiert werden. Zumal Magie und fremde Religionen diese Welt prägen. Es ist für mich ein Unterschied, ob eine mittelalterliche Welt angenähert werden soll oder ein fantastischer Weltentwurf sich Anleihen an populären Mittelalterbildern nimmt.

Gleichwohl scheint es offenbar Rezipienten zu geben, die in Drakensang eine gelungene Mittelalterwelt sehen (S. 202). Und da Videospiele offenbar Thema geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen sind, berücksichtigt sie auch unser GameLab an der Universität Hamburg für die Bibliothek (siehe ->INNOVATION: GameBox Advance, vom 10. August 2014). Die Frage ist jedoch, was die Spieler damit meinen, wenn sie in dem Zusammenhang von Mittelalter sprechen. Heben Sie nur auf die Objekte wie Burgen, Rüstungen und Fachwerkhäuser ab oder zählen Sie tatsächlich Magie zu mittelalterlichen Spielelementen.

Nach meiner persönlichen Erfahrung erscheint es mir eher so, dass unter Spielern klar zwischen Mittelalter und Fantasy unterschieden wird, wenn auch möglicherweise niemand genau sagen könnte, woran dies festzumachen wäre. Vielleicht könnte man so eine Grenze ziehen: Wenn eine Gruppe von Menschen reist und dabei Gerüchte von Magie, Trollen und Zwergen diskutiert, könnte man dies noch als mittelalterliche Vorstellungswelt begreifen. Wenn Menschen und Zwerge reisen und auf Trolle treffen, die sie mit Magie bekämpfen, dürfte es eher Fantasy sein.  Anfang 2015 wird das freudig erwartete Mittelalter-Rollenspiel ->Kingdom Come: Deliverance mit einer offenen mittelalterlichen und kleinskaligen Welt erscheinen. Dort werden wir zumindest sehen, wie ein paar engagierte Entwickler sich ein Videospiel mit einem realistischen mittelalterlichen Hintergrund vorstellen (siehe ->NEWS: Der Stand des Mittelalters vom 18. März 2014).

Heinzes Mittelalter

Auch wenn ich schon erheblich mehr geschrieben habe, als geplant war, hätte ich noch weitere Punkte anzumerken, die ich mir bei der Lektüre notiert hatte. Insbesondere sind jetzt bei diesem Beitrag die lobenden Worte etwas zu kurz gekommen. Dass ich Heinzes Anliegen sehr aufgeschlossen gegenüber stehe, die Theorie- und Methodenentwicklung voranzutreiben, habe ich bereits erwähnt. Sein Modell bietet eine gute Grundlage um weitergehende Überlegungen anzustellen. Heinze hat wirklich eine gut durchdachte Arbeit vorgelegt, wenn ich mich auch einigen seiner Prämissen und ihren Folgen nicht anschließen mag. Auch wenn dadurch manche Schlussfolgerungen für mich kritikwürdig sind, enthält seine Dissertation doch eine Fülle von Details, mit denen es sich weiterzurbeiten lohnt.

Seine Arbeit nimmt bereits, ohne dass sie auf Studien zu Rezipienten zurückgreifen kann, crossmediale Phänomene ins Blickfeld und zeichnet dadurch grobe Konturen für Anschlusspunkte an historische Erinnerungskulturen. Gleichzeitig weist er auch auf Remediation hin. Dadurch werden wesentliche Hebel offengelegt, an denen Rezipientenanalysen ansetzen könnten. Er arbeitet zudem wichtige Phänomene heraus, die einzeln eingehender zu untersuchen wären. Das ist zum Beispiel das Konzept vom Freischwebende Mittelalter oder die wechselseitige Beeinflussung von Geschichte als Marke und Geschichte als Universum, in denen einerseits Verdichtung und andererseits Fachwissenschaft wiederzufinden sind. Zu seinen Beobachtungen wären vergleichende Studien über mehrere Videospiele auch aus anderen Epochenzusammenhängen sicherlich aufschlussreich.

Sehr bedauerlich finde ich, dass er nach seinem umfangreichen Modellentwurf letztlich zu dem Schluss gelangt, es sei Historie nur als Narrativ in Videospielen integrierbar. Das ist letztlich auch der Grund, weshalb Heinze für meine Begriffe eine Karaffe in ihre Bestandteile zerlegt, um letztlich daraus wieder eine Vase zusammenzusetzen. Mit seinem Modell ist seine Sicht auf die Bestandteile bereits so verengt, dass er zwar etwas zu einem Ganzen zusammenfügt, dabei jedoch Teile wie den Griff beiseite lässt. Zwar ist es nun noch ein Gefäß, und aus Glas ist es auch noch; aber die Funktion ist eingeschränkt, die der Gegenstand am Ende noch hat. So ist es ihm mit den Videospielen ergangen.

Ich hoffe, ich konnte aufzeigen, dass Geschichte eben nicht nur durch Narrative eingehen muss, denn Modelle können historische Prozesse und Strukturen abbilden und simulieren helfen. In einem gebe ich Heinze allerdings recht, dass dafür neue Denkwege gegangen werden müssten – und das betrifft nicht nur die mittelalterliche, sondern insgesamt historische Darstellungen. Auf der anderen Seite gilt dies aber auch nicht nur für Entwickler, sondern auch für uns Historiker.

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Nachdem ich nun meine Meinung ausführlich dargestellt habe, nicht ohne die Arbeit Heinzes auch zu würdigen, leite ich die Diskussion an Sie als Leser weiter. Welche Meinung haben Sie zu diesem Buch und meinen Ausführungen? Nutzen Sie gerne den Kommentarbereich dafür.

>>>Teil 1: Heinzes Modell…
>>>Teil 2: … und Heinzes Schlüsse
>>>Teil 3: Die Folgen von Heinzes Thesen und wie sie zu bewerten sind

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