INNOVATION: Die Vermessung der Welt

Die Entwickler von ReRoll kartografieren offenbar die Erde als Spielschauplatz – ohne Hintergedanken?

Wenn Sie demnächst in den Sonnenuntergang blicken, könnte die Luft vor kleinen Quälgeistern schwirren. Nein, in der Tat ist noch kein Sommer, und Sie müssen keine Blutsauger fürchten. Es sind Drohnen unterwegs. Nein, keine Sorge, vermutlich ist es auch nicht die US-Air Force, die Sie als Al Queda-Ziel identifiziert hat. Ihnen droht auch kein Paket von Amazon auf den Schädel zu fallen.

Vielmehr hat ein junges Spieleprojekt namens ->ReRoll die Erde als Schauplatz für ein Videospiel entdeckt. Um ein möglichst authentisches Erlebnis zu realisieren, sollen mit Hilfe von Kameradrohnen des schweizer Kooperationspartners ->senseFly nach und nach so viele Orte der Welt erfasst werden, dass schließlich die gesamte Erde Teil des Spieles wird. Ich wiederhole noch einmal: die gesamte Erde. Also gut, abzüglich der Ozeane, denn die sollen prozedural generiert werden. Aber immerhin: Neben dem Eintrag im Wörterbuch für „ambitioniert“ dürfte das Firmenzeichen der Entwickler ->Pixyul zu finden sein. ->senseFly indes gehört zur Firmengruppe -> Parrot, die vor einiger Zeit mit der AR-Drohne von sich reden machte, welche durch eine iPhone-App gesteuert werden kann (siehe meinen Artikel ->INNOVATION: Call in the Chopper, in: Keimling vom 19. Mai 2010).



Ein Abbild der wirklichen Welt will Pixyul für die Spielwelt in ReRoll erschaffen. (Offizieller Trailer / Kanal IGN via Youtube)

Für das Survival-Setting einander bekriegender Einzelgänger in unserer heutigen Welt wäre es sicherlich vielversprechend, das Spiel auf diese Weise mit Geländedaten zu unterfüttern. Außerdem sollen Wetterdaten aus der echten Welt das Wetter an den gescannten Orten im Spiel bestimmen. Auch der Tag- und Nacht-Wechsel soll korrekt lokalisiert werden. Ein aktueller Trailer, mit dem sich die Entwickler um Investoren bemühen, zeigt, wie sie vorgehen.

Ich neige oft zu kindlicher Freude über solche Innovationen, allerdings kommen mir in diesem Fall starke Zweifel an dem Projekt. Und die beziehen sich nicht allein auf die Machbarkeit, sondern gründen auch auf einem ganz anderen Unbehagen…

Begonnen haben diese Bedenken mit der einzigen Demonstration von Spielmechanik, die in dem veröffentlichten Trailer zu sehen ist. Nach einem eindrucksvoll detaillierten Bergpanorama in einem Modellierungstool zeigt sich… ja, was eigentlich? Ein Schneemobil kämpft sich in weit weniger detaillierter isometrischer Schrägansicht von schräg oben einen Hang hinauf. Auf dem Gipfel liegt ein Hubschrauberwrack mit ein wenig Gegenständen drumherum. Ernsthaft, denke ich, das sieht dem grafischen Stil eines ->Wasteland2 sehr ähnlich. Wofür erfolgt dann aber die umfangreiche, „quadratkilometerweise“ Erhebung von Geländedetails, wenn nur eine statische Draufsicht mit matschigen Texturen entstehen sollte? Dient die Erhebung also eigentlich einem ganz anderen Zweck?

Der zweite Hinweis, dass etwas nicht stimmen könnte, versteckt sich in der Form der Finanzierung. Prinzipiell ist gegen eine Schwarmfinanzierung, das sogenannte Crowd-Funding, nichts einzuwenden. Viele interessante Projekte wären in den vergangenen Jahren nicht angestoßen worden, hätten sie Entwickler einem großen Publisher vorgeschlagen. Sie wären dort abgeblitzt. Über Plattformen wie ->Kickstarter oder ->IndieGogo hingegen loben immer mehr Entwickler eine Summe aus, die sie für ihr Programm benötigen und die auf ein Treuhandkonto bei der Plattform fließt. Um diese zu erreichen, müssen sie nicht nur Gebühren an Kickstarter selbst abführen, sondern auch einen gewissen Zeitrahmen festlegen, in dem das Geld hereinkommen soll. Kommt in dem Zeitrahmen die festgesetzte Summe nicht zusammen, wickelt Kickstarter das Konto wieder ab, und die Investoren erhalten ihr Geld zurück. Dieses Vorgehen garantiert für alle Beteiligten ein Mindestmaß an Sicherheit und ist hinlänglich erprobt.

Natürlich gibt es immer auch Fälle, in denen auch nach der Anschubfinanzierung Projekte scheitern, verändert werden oder sich als mutwillige Täuschung offenbaren, doch ist das dann ein noch erträgliches Investorenrisiko. So aber, wie die Entwickler von ->ReRoll vorgehen, sind nach meiner Ansicht, wenn schon keine bewusste Täuschung, dann doch zumindest erhebliche Unwägbarkeiten angelegt. Denn sie bitten um Zahlungen auf ihr eigenes Konto ohne einen Schwellenwert anzugeben, ab dem das Projekt finanziert ist und zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass es auch veröffentlicht wird.

Mir erscheint dieses Vorgehen gerade vor dem Hintergrund erprobter Plattformen zum Crowd-Funding außerordentlich unseriös. Wohin geht denn das investierte Geld der Spender? Was genau soll damit in welchen Etappen warum erreicht werden? Welche Garantie hat ein Investor, dass es nicht in Alufelgen für einen Maybach fließt, sondern in Drohnen, Programmierer und Grafiker? Es ist sehr merkwürdig, dass hier ein so unüblicher Weg gewählt wird. Ich stell mich doch auch nicht hin, behaupte den Mond zu besiedeln und bitte schon mal um Anzahlung der Spritkosten.



Die Tauglichkeit der Mini-Drohnen von senseFly jedenfalls steht außer Frage. (senseFly: Mapping the impossible / Kanal sensefly via Youtube)

Und drittens treibt mich noch ein weiterer beunruhigender Gedanke um, der aus dem gesamten hier formulierten Eindruck erwächst. Denkbar sind für mich ganz andere Szenarien als ein Videospiel, um eine hochauflösende topografische Darstellung der Welt anzuwenden. Sie könnten leicht einen dreidimensionalen Konkurrenten zu ->Google Earth entstehen lassen, einer neuartigen Navigationssoftware für Fahrzeuge dienen, vielleicht aber auch als virtueller Simulationsraum für militärische Planungen. Je nachdem, wer als Auftraggeber für die Kartierung hinter dem Entwickler verborgen wäre, könnten also demnächst Einsatzplanungen für Drohnenangriffe der US-Air Force mit den Daten durchgeführt werden, zu deren Finanzierung man Spielern ein geplantes Gameprojekt vorgaukelt? Ich halte dies angesichts der genannten Indizien für durchaus denkbar. Zu diesem Verdacht trägt sicherlich auch bei, dass von einem diesen Aufwand rechtfertigenden Gameplay bislang noch nichts zu sehen war. Möglich, dass ich mich irre, und bald schon ein Gameplaytrailer die Zweifel ausräumt.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber schwer zu beurteilen, ob es sich bei den Entwicklern einfach nur um etwas unorganisierte Visionäre mit einer durchaus sympathischen Tendenz zu Größenwahn handelt oder um hintergründige Verschleierer, die etwas ganz anderes betreiben, als sie es behaupten. In dem Fall wäre es wohl nicht die größte Vermessung, sondern eher die größte Vermessenheit der Welt. Allerdings hoffe ich, dass die Entwickler in naher Zukunft noch genauere Erklärungen veröffentlichen, besonders zum Spielprinzip, zur Wahl ihrer Finanzierung und zur Nutzung ihrer topografisch-geografischen Daten. Dann kann ich mich hoffentlich auch wieder kindlich auf eine der interessantesten kommenden Innovationen in Videospielen freuen.

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