INNOVATION: Esthers animierte Parabel

Das experimentelle „Dear, Esther“ spottet jeder Einordnung als Spiel

Am steinigen Strand einer unruhigen Küste beginnt einer langer Weg – wohin ist nicht so richtig klar. Einzig ein hoher Mast auf einer Klippe gibt einen Anhaltspunkt, eine Orientierung, ein Ziel – und wird doch nicht so richtig eines werden. Entlang des Weges fällt der Blick auf seltsame Zeichen und Malereien – verschlüsselt und kaum verständlich.

Eigentlich ließe es sich hier trotz der monotonen Gleichförmigkeit des zerrissen Wetters über der Insel ganz gut aushalten, ein frischer Wind, das Rauschen des Meeres. Wenn da nicht die Stimme wäre, die eines Erzählers, der einen mit dem unruhigen Drang beseelt, mehr über seine Gedanken erfahren zu müssen.

Irgendwo in der faszinierenden Landschaft liegt ein experimentelles Meisterwerk der Erzählkunst verborgen.
Irgendwo in der faszinierenden Landschaft liegt ein experimentelles Meisterwerk der Erzählkunst verborgen.

->Dear Esther ist ein merkwürdiges Stück Software, eigentlich kein Spiel, im Grunde aber auch kein Film. Vielleicht ließe es sich eher als interaktive Parabel bezeichnen, wenn sie denn tatsächlich interaktiv wäre.

Dennoch, bei dieser ursprünglich für Half-Life 2 erstellten und jetzt auf Basis der Engine noch einmal aufgehübschten Mod handelt es sich um ein Werk, dass die menschliche Neugier weckt – wohl auch weil nie ganz klar ist, worum es wirklich geht und was man dort eigentlich macht. Allerdings geht – bei aller wohlwollender Faszination – so etwas nicht mehr als Spiel durch…

Der englische Medienwissenschaftler ->Dan Pinchbeck entwickelte 2007 die erste Version dieser ausgefallenen Inszenierung. Was jedoch nun in der Neuauflage der ehemalige Umgebungskünstler von ->Mirror’s Edge, ->Robert Briscoe, aus der betagten Spielengine hervorzaubert, ist in der Tat beeindruckend. Man mag kaum glauben, dass noch immer das technische Gerüst des berühmten Shooters ->Half-Life 2 hinter den stimmigen Landschaften werkeln soll. Immerhin erschien das Hauptspiel der Mod bereits 2004. Doch Briscoe pumpte nicht nur das grafische Spektakel auf, sondern erweiterte zusammen mit dem ursprünglichen Schöpfer auch die Handlung von „Dear Esther“ und fügte neue Schauplätze und narrative Elemente ein.

Diese Erzählung aber als verklausuliert und gestelzt zu bezeichnen, wäre noch eine gewaltige Untertreibung. Recht elitäre Anspielungen auf literische Figuren und Vorlagen paaren sich mit wortgewaltigen Bildwolken, in deren Dunst sich der rote Faden beim Zuhörer leicht verlieren kann. Natürlich würde dies kein Rezensent freiwillig einräumen – wer das Märchen ->“Des Kaisers neue Kleider“ kennt, weiß wovon hier die Rede ist.



Zahlreiche Mosaiksteine der Handlung finden sich überall in Dear Esther - ein Bauplan für das Mosaik jedoch nicht.

Keinewegs soll damit gesagt sein, dass „From Esther“ kein interessantes Erlebnis wäre, allerdings ist es eher eine SlideshowParabel als ein Spiel. Denn die Interaktionen sind auf die Bewegung DURCH die Umgebung und ein paar Hotspots IN der Umgebung beschränkt.

Beide Schöpfer warben vor zwei Jahren bei ->Valve, dem Schöpfer zahlreicher Games-Meilensteine und dem Betreiber der Distributionsplattform ->Steam um eine Lizenz, das Experiment dort als Spiel zu vertreiben. Auch wenn die Entwicklung angeblich nur etwa 50.000$ gekostet haben soll, ist doch fraglich, ob sich für ein Spiel, sperrig wie Kantholz, über den kurzfristigen Hype hinaus genug zahlende Kunden finden lassen. Immerhin sollen die Kosten wohl schon jetzt wieder eingespielt sein.

Allein es bleiben die Fragen: Ist es überhaupt noch ein Spiel? Und wer soll es dann spielen? Zunächst einmal kann als Spiel wohl nur etwas durchgehen, das die Freiheit zu Entscheidungen lässt. Solche Freiheit ist rar gesät zwischen dem Spazieren über eine Insel und dem Aktivieren von Hotspots.

Das Projekt als interaktiven Film zu bezeichnen, täte ihm jedoch auch Unrecht. Diese Bezeichnung suggeriert den Eindruck, es führe mit interaktiven Elementen durch eine irgendwie geartete Handlung. Selbst die vielfach zugewiesenen Attribute in der Fachjournaille von Videospielen als „Arthouse“-Projekt sagen höchstens etwas über einen hohen Anspruch aus. Aufschlussreich eingeordnet wird „From Esther“ auf diese Weise jedenfalls nicht.

Am Ende ist die Wahrheit, dass – wer nach einem Etikett sucht – nicht fündig werden wird. Das muss nichts Schlechtes sein, immerhin schreiben Spieler von einer „ganz eigenen Erfahrung“, die „Dear Esther“ biete. Es ist ein Experiment – mit viel verklausulierter Sprache, mythogischen Bildern und der Notwendigkeit ruhiger, geduldiger gedanklicher Beschäftigung mit einem Mosaik aus Andeutungen. (Der hiermit vermiedene Begriff „Puzzle“ würde auch nur suggerieren, dass die Versatzstücke sich erkennbar sinnvoll verzahnen.)

Wer sich aber offen darauf einlassen mag, der gewinnt eine verblüffende optische und inhaltliche „Erfahrung“, kann jedoch klare, deutliche Antworten nicht erwarten. In einer Zeit von Spielen wie Modern Warfare, die eine gute Spielerfahrung mit einer möglichst großen Anzahl von Explosionen gleichzusetzen scheinen, ist „From Esther“ daher zumindest in jener Hinsicht eine erholsame Erfahrung. Wer den narrativen Ausbruch aus den immergleichen Klischees der Konkurrenz sucht, kommt hier nicht umhin zuzugreifen.

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2 Gedanken zu „INNOVATION: Esthers animierte Parabel“

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