INNOVATION: Gebietsreform

Überraschend macht eine Neuerung ‚Civilization VI‘ zum besten Reihenableger – trotz einer trotteligen KI

(PC (getestet) | OS X | Linux )

Hinterhältig rottet die englische Königin eine Angriffsallianz zusammen, und zwingt mir zum wiederholten Male ihre Kriege auf. (Abb. eigener Screenshot, PC)
Hinterhältig rottet die englische Königin eine Angriffsallianz zusammen, und zwingt mir zum wiederholten Male ihre Kriege auf. (Abb. eigener Screenshot, PC)

Die englische Königin verbreitet zum wiederholten Male Lügen über mich. Ist das zu fassen? Kaum ein Jahrhundert ist es her, dass ich ihr eine Lektion erteilte. Da durchbrachen meine Ritter mit aller Wucht die Verteidigungen an englischen Städten, nachdem Ihro Hoheit mit anderen Reichen eine Invasion einleitete – von allen Seiten. Dieses Mal entsende ich Panzer, sprenge mit der Artillerie Löcher in die englische Versorgung und lasse meine neuen Flugzeuge erste Angriffe fliegen. Meinem Vormarsch ist nichts entgegenzusetzen, also sollte ich mich freuen. Tue ich aber nicht, denn mich ärgern solch unsinnige Kriege. Dieser Waffengang lässt zwar im Spiel nur Zahlen schrumpfen, doch stehen sie für die sterbende englische Bevölkerung. Schon nach kurzer Zeit verlassen meine Einheiten das Nachbarland, und sichern nur noch die Grenzen, um einen Frieden auszuhandeln.

Eigentlich wollte ich dieses Mal absichtlich aggressiv spielen. Um die militärische Variante von ->Civilization VI zu testen – gerade entgegen meines bevorzugten Spielstils – baute ich eine leistungsfähige Wirtschaft auf, kräftige Produktion und wehrhafte Stützpunkte. Doch, so sehr ich mich auch bemühte, ständig fiel ich schon nach kurzen Gefechten in meine friedlichen Grundmuster zurück. Als Eroberer mache ich wohl keine gute Figur. Während andere sich fröhlich mit Atombomben bewerfen, scheue ich den Verlust an virtuellem Leben, die Zerstörung oder gar Verseuchung der Umgebung und die maßlose Verschwendung von Wohlstand.

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Der Trailer zum Release inszenierte routiniert, aber stimmungsvoll verschiedene Eindrücke von historischen Momenten. Das spielehistorische Ausmaß des entscheidenden neue Infrastruktur-Programms für das Stadtumland ist jedoch der eigentliche Star des sechsten Teiles. (Civilization VI Launch Trailer | Kanal Sid Meier’s Civilization via Youtube)

Es waren schon immer ganz andere Aspekte als die Kriegerischen, die mich an der Reihe faszinieren. Kämpfe langweilen mich in der Regel eher. Sie halten mich nur von meinen eigentlichen Plänen für den Aufbau ab. Es liegt nicht daran, dass ich nicht auch anders könnte; etwa in der artverwandten Rundenstrategie von ->XCom: Enemy Unknown liebe ich die Herausforderung taktischer Rundengefechte sehr. Nur dreht sich für mich die Zivilisationsgeschichte eben um andere Paradigmen als kriegerische. Dabei gehe ich sicher nicht weniger expansionistisch vor, aber meist friedlich, vertraglich, mit Handel, wissenschaftlich stark und kulturell strahlend – diese Faktoren erscheinen mir als die eigentlichen treibenden Kräfte der menschlichen Geschichte. Irgendwie prägen sie dadurch meine Spielweise. Alles Andere erscheint mir als archaischer Rückfall.

SSo viel mehr als nur Kriegführung: Civilization VI bietet Wirtschaft und Handel, Wissenschaft und Religion, arrangiert um eine blühende Stadtkultur. (Abb. eigener Screenshot, PC)
So viel mehr als nur Kriegführung: Civilization VI bietet Wirtschaft und Handel, Wissenschaft und Religion, arrangiert um eine blühende Stadtkultur. (Abb. eigener Screenshot, PC)

 

Ein neues Konzept von ->Civilization VI unterstützt mich stärker denn je in meiner Spielweise. Das 2016 erschienene Strategiespektakel ist schon der sechste Haupttitel in der altehrwürdigen Reihe des Entwicklers ->Firaxis Games. Die runderneuerte Spielmechanik lenkt mich immer wieder – selbst in mutwilliger Zerstörungsabsicht – auf konstruktive Bahnen. Das liegt entscheidend an der neuen Relevanz des städtischen Umlands für alle Spielweisen. Nachvollziehbar beeinflussen sich die Landschaften mit der dortigen Infrastruktur, mit Gebäuden und zivilisatorischen Wundern – und alle gleichzeitig mit- und untereinander. Diese Gebietsreform macht ->Civilization VI aus historischer Sicht zu einem der besten, wenn nicht dem besten Teil der Reihe.

->Civilization VI gelang damit ein großer Wurf, den nach 25 Jahren kaum jemand noch von der routinierten Reihe erwartet hatte. Und es gibt noch mehr Faszinierendes zu entdecken. Allerdings auch Problematisches… und das ist nicht allein die Erfindung der Künstlichen Unintelligenz.

Zivilisatorischer Geist

Zu den Vorgängern von ->Civilization VI und dem altehrwürdigen Spielprinzip hole ich im aktuellen Beitrag nicht weiter aus. Ein anderer Artikel in diesem Blog führte bereits an ->Civilization IV vor, welche grundsätzliche Spielmechanik alle Ableger im Wesentlichen miteinander teilen (siehe ->RETRO: Noch ’ne Runde für die Menschheit, in: Keimling vom 17.11.2014). Der Anlass für den damaligen Artikel war, wie die religiöse und kulturelle Strahlkraft im vierten Teil der Reihe das historische Gesamtmodell umwälzte.

Spätestens seit dem vierten Teil wurde der Unsinn offensichtlich, solche Spiele pauschal als 4X-Games zu bezeichnen. Allein die Wortwahl schon reproduziert die Erfahrungen von älteren Spieleredakteuren und Entwicklern, die sie einst an weiter zurück liegenden Teilen der Reihe oder unter dem Eindruck anderer älterer Strategiespiele gewannen. Die hinter der Abkürzung stehenden Begriffe sind tendenziös und vernachlässigen die vielfältigen Änderungen, die sich seither im Genre allgemein, speziell aber an der Reihe durchgesetzt haben. 4X, also die Konzepte „eXplore“, „eXpand“, „eXploit“, „eXterminate“ stehen für eine ganz bestimmte dogmatische Auffassung, wie spielmechanischer Prozesse in einem erfolgreichen Strategiespiel zu sein hätten. Zudem vernachlässigt das Dogma die entscheidende Rolle des Spielenden und seiner persönlichen Spielweise für die Grundausrichtung solch komplexer Spiele. Um ein heutiges Spiel einzuschätzen, sind die traditionellen Schubladen daher kontraproduktiv.

Mein Vorauskommando hinterließ vor Birmingham ein brennendes Stadtumland. Zwar sind militärische Operationen nicht immer vermeidbar, sehr wohl aber das unterstellte "eXterminate" aus der dogmatischen Genrebezeichnung "4X". (Abb. eigener Screenshot, PC)
Mein Vorauskommando hinterließ vor Birmingham ein brennendes Stadtumland. Zwar sind militärische Operationen nicht immer vermeidbar, sehr wohl aber das unterstellte „eXterminate“ aus der dogmatischen Genrebezeichnung „4X“. (Abb. eigener Screenshot, PC)

Denn dahinter steht eine Auffassung, wie die globale Welt unter Staaten beschaffen sei, welche Triebkräfte unsere Geschichte befeuern. Natürlich erkunden Spieler auch in Civilization, expandieren ihre Reiche und beuten Rohstoffe aus, allein die Auslöschung des Gegners ist jedoch schon länger nur eine von mehreren möglichen Spielweisen. Auch der Begriff der Ausbeutung ist insofern vorgeformt, als dass er exklusiv und aggressiv ist. Man könnte auch schlicht von Nutzung sprechen, die nicht notwendig nur einen aggressiven Machtapparat zu militärischen Höchstleistungen anspornen muss. Wie jedes Dogma, schließt die Bezeichnung als 4X Alternativen aus, die jüngere Spielmechanik und die Welt in einem anderen Licht zu sehen.

Für Götter und Vaterländer

Spätestens seit dem vierten Teil ermöglicht ->Civilization deutliche Unterschiede in den Spielweisen, ohne dass man seine Gegner von der Landkarte radieren müsste. Dort gab es nicht nur erstmals ein ausgefuchstes System, das Religion und kulturellen Einfluss einführte, es versuchte sich auch an neuen Wegen für die Spielmechanik. Allein durch die kulturelle Strahlkraft von Staaten dehnten sich die Grenzen von Einflussgebieten aus, so dass schließlich Städte rebellierten, die lieber zu einem anderen Reich gehören wollten. Je nach Bedeutung einer Stadt vollzog sich dieser Wechsel zwar friedlich, löste jedoch gelegentlich durchaus Kriegszüge aus. Dennoch veränderte dieser Schritt das Spielgefüge maßgeblich hin zu weniger gewalttätigen Philosophien.

Variabler als in Civilization IV wurden die Grenzen der Staatengebilde nie wieder. Sie symbolisierten weniger Staatsgrenzen, sondern kulturelle Einflusssphären und verschoben sich während der ganzen Partie. Kultur bekam so eine enorme globale Bedeutung. (Abb. eigener Screenshot, PC)
Variabler als in Civilization IV wurden die Grenzen der Staatengebilde nie wieder. Sie symbolisierten weniger Staatsgrenzen, sondern kulturelle Einflusssphären und verschoben sich während der ganzen Partie. Kultur bekam so eine enorme globale Bedeutung. (Abb. eigener Screenshot, PC)

Während der fünfte Teil einer solchen kulturellen Einflussnahme nicht mehr so viel Platz und Wirkung einräumte, entwickelt nun ->Civilization VI die religiösen Systeme erheblich weiter. So gibt es nun einen ständigen Wettstreit um den Einfluss verschiedener Glaubensrichtungen auf die Einwohner, um deren Seelen sich Missionare der Spieler aktiv bemühen. Gewiss, gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte ist die dahinter stehende Deutung amüsant, dass Religion als Staatsräson von frühesten Zeiten an durch einen Herrscher betrieben wird. In den deutschen Ländern befanden sich die weltliche und religiöse Seite über Jahrhunderte in einem Dauerkonflikt – hier wirkte also gerade kein alleinverantwortlicher Herrscher, sondern eher zwei ähnlich starke, zänkische Geschwister. Doch selbst im Hinblick auf eine traditionell starke Einheit, wie sie etwa Spanien zwischen Katholizismus und Herrschaft  über lange Zeit auszeichnen, wäre diese Verbindung übertrieben.  Außerdem entstand diese Einheit wohl kaum vor dem allerersten Schleuderschützen.

Glaubalisierung

Wer effektiv mit religiösem Einfluss punkten will, muss sich zeitig ranhalten. Es gibt nicht genügend Religionen, als dass alle Parteien einen herrschaftlichen Glauben zelebrieren könnten. Wer nicht durch Heilige Stätten früh die spirituelle Kraft in den Siedlungen bündelt, dem entspringt auch kein Prophet. Erst sein Erscheinen eröffnet einen Kult, den man mit Eigenschaften ausbauen kann. Wenn man sich für ein paar von vielen Ausrichtungen entscheidet, verleihen sie Boni auf die Seefahrt, lassen durch Gemeinschaftsbehausungen mehr Menschen in einer Stadt unterkommen oder steigern den Eifer bei der Weidewirtschaft.

Mit einem Kult nimmt die spirituelle Bewegung ihren Anfang. Der von den Deutschen klischeesicher gegründete Bierismus steigt jedoch erst zu einer Religion auf, wenn ein Prophet erscheint. (Abb. eigener Screenshot, PC)
Mit einem Kult nimmt die spirituelle Bewegung ihren Anfang. Der von den Deutschen klischeesicher gegründete Bierismus steigt jedoch erst zu einer Religion auf, wenn ein Prophet erscheint. (Abb. eigener Screenshot, PC)

Um den religiösen Einfluss über die eigenen Grenzen hinaus zu treiben und mit einer weltweit dominanten Glaubensgemeinschaft letztlich einen Religionssieg zu erringen, sind Missionare in alle Welt zu entsenden. Sie haben die Fähigkeit, drei Mal die Bewohner von Städten zu beeinflussen, bevor sie sich in der Menge der Gläubigen auflösen. Je nachdem, unter dem Einfluss wie vieler Glaubensrichtungen eine Siedlung steht, ist ihr Einsatz nachhaltig erfolgreich oder verpufft an der Konkurrenz. Auch die Bevölkerung des eigenen Reiches ist erst zu Anhängern zu konvertieren, damit ein Herrscher in den Genuss kommt, dass sich der Einfluss immer stärker auch automatisch verbreitet. Effektiver ist es allerdings, Anhänger eigenhändig zu werben.

Im neuen Religionssystem verbreitern Missionare den Einfluss der herrschaftlichen Religion. Hier symbolisiert durch die grauen Icons an den Städten. Da die Städte weiter wachsen, müssen hinzu kommende Bürger stets aufs Neue überzeugt werden. So entsteht ein forderndes und dynamisches System. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Im neuen Religionssystem verbreitern Missionare den Einfluss der herrschaftlichen Religion. Hier symbolisiert durch die grauen Icons an den Städten. Da die Städte weiter wachsen, müssen hinzu kommende Bürger stets aufs Neue überzeugt werden. So entsteht ein forderndes und dynamisches System. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Keineswegs nötig ist es jedoch, andere Glaubensrichtungen auszulöschen, wie das „eXterminate“ in 4X unterstellen würde. Um global den Einfluss zu erweitern, muss sich nur die Mehrheit der Bevölkerung dem Glauben anschließen. Bemerkenswert ist also, dass es tatsächlich eine bedingte Koexistenz in dem Modell gibt. Niemand muss hier jemanden ausmerzen. Da die Städte weiter wachsen und neue Bewohner nicht notwendig dem leitenden Glauben folgen, reißt der Wettstreit um neue Glaubensgenossen nie ab. Auf diese Weise entsteht eine gänzlich andere Spielweise, mit der man neben wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Ansätzen quasi ein Spiel im Spiel noch obendrauf bekommt.

Ideenwettstreit

Mein Missionar macht zwar den neuen Bewohnern von Dortmund meinen Bierismus schmackhaft, gegen die Kraft der islamischen Lehre kommt er allein jedoch nicht an. (Abb. Ausschnitt, Screenshot, PC)
Mein Missionar macht zwar den neuen Bewohnern von Dortmund meinen „Bierismus“ (grün) schmackhaft, gegen die Kraft der islamischen Lehre (gelb) kommt er allein jedoch nicht an. (Abb. Ausschnitt, Screenshot, PC)

Gerade in stark umrungenen Gegenden sind Missionare jedoch zu schwach, um entscheidenden Einfluss zu nehmen. Letztlich muss die Mehrheit der Bewohner immer noch die Staatsreligion unterstützen, um das Umland der Stadt zu kontrollieren. Und von dort aus soll der eigene Glaube weiter vordringen. So schickt man als Herrscher schließlich Apostel in das Gebiet, die wesentlich teurer sind als Missionare, gegenüber denen aber auch aggressiv gegen andere religiöse Prediger vorgehen. Zum ersten Mal schafft die Reihe damit ein religiöses Kampfsystem, mit dem sich religiöse Figuren im Ideenstreit auseinandersetzen. Missionare verteidigen sich wenigstens ein bisschen, sehr viel heftiger rücken dagegen Inquisitoren gegnerischen Missionaren und Aposteln auf die Pelle. Um sie im eigenen Territorium auf eingedrungene Prediger anzusetzen, muss ein Apostel allerdings erst die Inquisition ausrufen.

Vor den Toren meiner Stadt versuchen fremde Prediger das Wort ihrer Götter zu verbreiten, doch die göttliche Erleuchtung meiner Inquisitoren überstrahlt sie. (Abb. Ausschnitt, Screenshot, PC)
Vor den Toren meiner Stadt versuchen fremde Prediger das Wort ihrer Götter zu verbreiten, doch die göttliche Erleuchtung meiner Inquisitoren überstrahlt ihre Wirkung. (Abb. Ausschnitt, Screenshot, PC)

Dennoch sind die religiösen Auseinandersetzungen nicht mit Kampfhandlungen zu verwechseln, denn Missionare, Apostel und Inquisitoren greifen keine bewaffneten Einheiten an und werden von ihnen auch in Ruhe gelassen. Treffen zwei religiöse Figuren aufeinander, beschwören sie sogleich Blitze göttlicher Kraft, die in ihrem Gegenüber einschlagen. Keineswegs ist das ein gänzlich friedliches System. Die gegenseitige Attacke symbolisiert aber eher die Verdrängung durch ein ideelles Streitgespräch. Die religösen Auseinandersetzungen stehen als optionale Spielmechanik neben den übrigen Wegen, das Spiel wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell und, ja, militärisch zu betreiben.

Man muss es halt glauben

Historisch betrachtet, ist das globale Gerangel um den Einfluss verschiedener Glauben einen genaueren geschichtswissenschaftlichen Blick wert. Es versucht die Verquickung zwischen Religion und Staat zu einem Spielsystem zu entwickeln. Spielerisch ist das System auch reizvoll und spannend. Schon dass nicht genügend Propheten bereit stehen, um jeden Spieler eine Religion gründen zu lassen, erhöht spielerisch den Druck von Anfang an. Ein begrenzter Vorrat an Glaubensgründern jedoch ist historisch völlig unsinnig. Dafür sind die Mechaniken glaubwürdig, angefangen mit dem Ausschwärmen der Missionare, über die geistlich schärferen Schwerter derApostel bis hin zur Inquisition, um das Reichsgebiet nach innen zu sichern.

Ein abschließendes Urteil über diesen Bestandteil des Spieles fällt jedoch schwer. Die Spielmechanik um die Glaubensströmungen ist sehr schlecht erklärt und beinhaltet daher manchen blinden Fleck. Es wirkt fast so, als wollte ->Civilization VI die Thematik in den unruhigen Zeiten nicht offensiv vermarkten, in denen religiöse Spinner egozentrisch meinen, ihr Seelenheil durch den Tod von Andersgläubigen herbeibomben zu können. Die Mechanik des Spiel um Gläubige erschließt sich kaum, wenn man nicht intensiv durch Wikis stöbert. Mir war lange nicht klar, dass ein Apostel geopfert werden muss, um eine Inquisition im Lande loszutreten. Selbst dann bleibt aber manches ein Rätsel: welchen Effekt genau der Einsatz eines Apostels in einer Metropole hat, die von vielen Glaubensrichtungen durchwobenen ist, bleibt schwer erkennbar. Aber vielleicht ist das ja beabsichtigt, und man soll einfach auf den eigenen Glauben vertrauen.

Die große Flurbereinigung

Deutlich schlüssiger und planbarer fällt dagegen die andere große Reform in ->Civilization VI aus, die gleich alle Spielprinzipien umsortiert: Die Gebiete, welche die Städte umgeben, werden jetzt komplexer erschlossen und bewirtschaftet als bei jedem anderen Teil zuvor. Baute man in den Vorgängern zwar auch schon Farmen, Gehöfte und Minen, freuen sich Herrscher nun über komplexe, interdependente Infrastruktur. Häfen etwa sind besonders effektiv, wenn sie in der Nachbarschaft von Luxusgütern angelegt werden. Damit konkurrieren sie jedoch mit manchen Weltwundern, denn der Leuchtturm von Pharos muss nicht nur vor einem Küstenstreifen im Meer stehen, sondern verlangt auch nach der unmittelbaren Nähe von Kaimauern am Hafen. Wer da nicht notgedrungen die Bonusressourcen einstampfen will, muss schon klug planen.

Das leuchtende Korinth im Hintergrund profitiert wie andere Städte in der Nähe von dem Kraftwerk, dem Unterhaltungsbezirk mit Stadion und dem Colosseum nebenan. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Das leuchtende Korinth im Hintergrund profitiert wie andere Städte in der Nähe von dem Kraftwerk, dem Unterhaltungsbezirk mit Stadion und dem Colosseum nebenan. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Dieses Puzzle im städtischen Umland sind die entscheidende Grundlage für so ziemlich alle Bestandteile der Spielmechanik. Es beeinflusst die Ausrichtung jeder Siedlung erheblich. Später übergreifen die Effekte sogar mehrere Siedlungen, werden Gebäude geschickt platziert. Niederlassungen sollten daher gut abgestimmt werden, denn die verschiedenartigsten Boni sind später sehr nützlich. Ein Zoo etwa verbessert die Zufriedenheit in Städten, die im Abstand von bis zu sechs Feldern zu seinem Standort liegen. Die Wahl des Bauplatzes im städtischen Umland wird zu einem wichtigen Schritt, denn der Standort für Gebäude ist Stufe um Stufe auszubauen. Beim Unterhaltungsdistrikt zum Beispiel führt die Entwicklung von einer Arena über einen Zirkus bis zum Zoo, den schließlich in der Moderne ein großes Stadion erweitert. Je größer die Metropolen wachsen, umso mehr bestehen die Bewohner auf solche Orte der Zerstreuung.

Lego City

Der Hafen von Xian schmiegt sich ein wenig abseits der Metropole in eine Bucht. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Der Hafen von Xian schmiegt sich ein wenig abseits der Metropole in eine Bucht. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Nach diesem Baukasten-Prinzip funktionieren so einige infrastrukturell bedeutende Bauwerke. Ihre Funktionen wechselwirken umso mehr, da sie in mehreren Stufen ausbaubar sind. Endlich können etwa Häfen glaubwürdiger an den Küsten platziert werden und spielerisch eine größere Rolle übernehmen. Weil sie nun innerhalb des städtischen Umlandes positionierbar sind, ragen sie nicht mehr wie in den Vorgängern als optischer Wurmfortsatz aus dem Stadtzentrum heraus. Der Standort von Städten kann nun strategisch unabhängig davon sein, ob man gerade auf einen Hafen angewiesen ist.

Andererseits kann ein Hafen, geschickt an einer Meerenge platziert, strategisches Gold wert sein. Umgekehrt können verfeindete Staatan die Häfen an exponierter Stelle blockieren und plündern. Brandgeschatzte Infrastruktur verliert ihre Boni und muss mit erheblichem Produktionsaufwand wiederhergestellt werden. Das kann auf die Dauer eine Wirtschaft erheblich schädigen, was gerade dann wirkt, wenn dort eine Werft mit dem Rohbau eines Kriegschiffs stillgelegt ist. Glücklich ist daher, wer seine Häfen innerhalb des engen Radius seiner städtischen Verteidigung positioniert hat, oder rechtzeitig eine Kaserne oder einen Flughafen in der Nähe errichtet.

Immer wieder legen unerkannte Saboteure meine Stadt Tromsø lahm. Mir gelingt es einfach nicht, sie durch Gegenspione zu schnappen. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Immer wieder legen unerkannte Saboteure meine Stadt Tromsø durch Sprengsätze lahm. Mir gelingt es einfach nicht, sie durch Gegenspione zu schnappen. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Rundumschlag

Wird es jetzt schon langsam voll im Stadtumland, so beschränken Meere und Gebirge den verfügbaren Raum noch zusätzlich. Ratsam ist es daher, die Siedlungen des Reiches gezielt zu spezialisieren. Touristischen und kulturellen Zwecke dient ein Bezirk, in dessen Museen und Konzerthäusern man archäologische Funde, Bildhauerei und Gemälde verstaut. Ein Finanzdistrikt hebt zusätzliche Einnahmen. Gibt es viele schürfbare Rohstoffe, bietet sich an, einen Produktionsbezirk dazwischen zu setzen. Auf den Ressourcen errichtete Minen verschaffen dessen Produktivität noch zusätzliche Kapazitäten.

Eng wird es im Gebirge. Alle wollen Höhenluft. Geschickt platziert profitieren jedoch der Heilige Ort rechts hinten und der Forschungsdistrikt beide. Letzterer schmiegt sich sogar gleich an zwei Gebirge, so dass er doppelt profitiert. Im Vordergrund bleibt so noch Platz für das moderne Weltwunder des Broadway. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Eng wird es im Gebirge. Alle wollen Höhenluft. Geschickt platziert profitieren jedoch der Heilige Ort rechts hinten und der Forschungsdistrikt daneben beide. Letzterer schmiegt sich sogar gleich an zwei Gebirge, was die Akademiker gleich doppelt freut. Im Vordergrund bleibt etwas Platz für das moderne Weltwunder des Broadway. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Kultische Stätten werden am günstigsten in der Nähe erhabener Bergformationen errichtet. Auch die Forschung beflügelt es, wenn die Wissenschaftler von allen Seiten Höhenluft atmen. Später, in der Moderne, können sogar zusätzliche Wohnbezirke errichtet werden; kleine Trabantenstädte, die zusätzlichen Einwohnern Platz einräumen. Besonders viele davon ziehen sie an, je atemberaubender die umliegende Natur ist: etwa an einer schneebedeckten Bergkette oder oberhalb malerischer Küstenklippen.

Diese städtische Planung ist es, die für das faszinierende, neue Spielgefühl sorgt, gerade für all jene, die gerne friedliche Wege beschreiten. Und das gute daran: Unberührt bleibt davon im Grundsatz die Mechanik für all jene, die mit Waffengewalt die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Erstmals stehen dem jedoch zwar asymmetrische, gleichzeitig jedoch ebenbürtige Alternativen gegenüber. Warum die Kämpfer unter den Spielern dann doch wieder enttäuscht sein dürften, klärt diese Beitrag weiter unten noch.

Sozial entkoppelt

Weitere Spielelemente bekräftigen den bislang sehr positiven Gesamteindruck zunächst noch. Erstmals trennt ->Firaxis Games die technologische Forschung von den gesellschaftlichen Errungenschaften. In dem abgetrennten Entwicklungsarm finden soziale Politiken wie die Oligarchie oder Urbanisierung eine neue Heimat. Die Zuordnung von Kategorien erscheint mir allerdings etwas inkonsistent. Der Sozialbaum hat ohne Zweifel mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, wie ich sie in meinem bereits genannten ->Beitrag zu Civilization IV an der Forschung deutlich machte. Dazu zählen seine Linearität, das Fehlen loser Enden und die Heilsvorstellung im Fortschritt.

Mit zunehmendem Spielverlauf spülen soziale Errungenschaften immer neue Karten in einen Fundus, mit dem die Spieler die Richtlinien ihrer Regierungsform kombinieren. (Abb.: Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Mit zunehmendem Spielverlauf spülen soziale Errungenschaften immer neue Karten in einen Fundus, mit dem die Spieler die Richtlinien ihrer Regierungsform kombinieren. (Abb.: Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Allerdings zeigt die Entkopplung sehr deutlich, dass Civilization sich endgültig zu Konzepten hinwendet, die mehrere Perspektiven auf Geschichtsbilder gestatten. Die Civics im gesellschaftlichen Forschungsbaum individualisieren durch eine wachsende Menge von Karten die Regierungen im sechsten Teil, weil die dort vermerkten Eigenschaften die eigene Herrschaft nach vielen Gesichtspunkten ausrichten lassen. Militärische, wirtschaftliche und diplomatische Elemente ermöglichen zusammen mit Joker-Slots eine große Vielfalt nach dem eigenen Geschmack. In der Folge ist die Spielweise der Nutzer des Strategietitels entscheidend: wie historische Prozesse und Konventionen in ->Civilization VI interpretiert werden, dafür hält in großem Maße er die Zügel in der Hand. Im Umkehrschluss bedeuten diese Verhältnisse aber auch, dass die Spielenden jeweils das Geschichtskonzept reproduzieren, dass sie mit in die Partien hinein tragen.

Gekommen, um zu bleiben

Klüger gegenüber den Vorläufern wirkt das System, Gesandte in Stadtstaaten zu schicken. Noch im fünften Teil, der die Trabantenstaaten mit eigenen Interessen einführte, wirkte ihr Verhalten erratisch. Sie einzubeziehen, war eine Last und keine Lust. Durch die gewählte Regierungsform und soziale Errungenschaften erhält man nun Gesandte, die spürbare Wirkung ausüben. Bei einem wirtschaftlich geprägten Partner profitiert man auch selbst von der Wirtschaft, Akademiker dagegen unterstützen die Wissenschaft, Gottesstaaten liefern Glaubenskraft. Ist man mit den meisten Gesandten vertreten, so wird man Suezän der Siedlung, erhält Einsicht und kann später sogar das Umland der Stadt mit entwickeln. Diese Option ist zum Beispiel für alle Händler unter den Spielenden sehr interessant, können sie doch so die passenden Erträge für ihre Handelsrouten gleich mit erzeugen.

Die Kleinstaaten sind gekonnt mit anderen Spielsysteme verknüpft, so dass es eine Freude ist, sie wie eine Klaviatur zu spielen. Mithilfe gezielter Forschung oder bestimmten Gesellschaftsformen, die sich die Zwergstaaten wünschen, kann sich ein Spieler die Erlaubnis verdienen, weitere Gesandte zu entsenden. Militaristische oder streng religiöse Stadtstaaten hingegen möchten sich nur gern an die Besitzer bestimmter Truppengattungen binden oder bestehen auf den Ausbau heiliger Bezirke. Vergleichbar funktionieren Finanzinteressen und produzierend ausgerichtete Orte. Dadurch entsteht ein spannender Wettstreit um die Interessen dieser Städte, denn als Vasallenstaaten greifen sie alle auch militärisch Partei. In der Folge startet jeder entbrennende Konflikt mit einem kraftvollen Moment durch die eintickernden, kaskadierenden Kriegserklärungen.

Der Stadtstaat Stockholm, gerade durch meine Erkundungsschiff kontaktiert, wünscht sich, dass ich meine Aufmerksamkeit auf den Merkantilismus lenke. Auch andere Mächte sind an dem Einfluss interessiert. Strategisch oder wirtschaftlich wichtige Orte finden sich jedoch überall, da heißt es, klug Prioritäten zu setzen. (Abb. Collage, eigene Screenshots, PC)
Der Stadtstaat Stockholm, gerade durch meine Erkundungsschiff kontaktiert, wünscht sich, dass ich meine Aufmerksamkeit auf den Merkantilismus lenke. Auch andere Mächte sind an dem Einfluss interessiert. Strategisch oder wirtschaftlich wichtige Orte finden sich jedoch überall, da heißt es, klug Prioritäten zu setzen. (Abb. Collage, eigene Screenshots, PC)

Niederungen der Diplomatie

Wenn ->Civilization VI auch sehr lobenswerte neue Ansätze verfolgt, ist manches doch weniger gut gelungen. Der Diplomatie fehlt es im Verhältnis zum Endzustand des fünften Teiles an Komplexität. Zwar musste der Vorgänger erst zwei Erweiterungspakete bekommen, bevor ein vielfältiges diplomatisches System in das Hauptspiel einging, um unter den Spielfraktionen zu verhandeln. Allerdings ist ->Civilization VI schon im Grundzustand mit breit aufgestellter Spielmechanik ausgeliefert worden. Dass die Entwickler das dünne Diplomatiekonzept auf einen Umfang erweitern, wie es der Vorgänger am Ende aufwies, steht daher nicht zu erwarten. Wenn ->Firaxis Games Anregungen für neue Mechaniken benötigt, lege ich einen Artikel von meinem Kollegen Tobias Winnerling aus Düsseldorf ans Herz. Er stellte jüngst ein paar aufschlussreiche Überlegungen zu diplomatischen Systemen in Strategiespielen an (siehe ->Winnerling, Tobias: Nobody Cares About Negotiations, in: ->The Ontological Geek vom 30.1.2017).

Übersichtlich schlüsselt Civilization VI auf, weshalb Kaiser Trajan uns eigentlich sehr wohlgesonnen sein müsste. Dass wir im Krieg liegen, verursachte ein hastiger Klick von mir: ich habe ihn bei anderen unabsichtlich denunziert. Die Verhandlungsmöglichkeiten sind insgesamt sehr begrenzt. (Abb. Collage, eigener Screentshot, PC)
Übersichtlich schlüsselt Civilization VI auf, weshalb Kaiser Trajan uns eigentlich sehr wohlgesonnen sein müsste. Dass wir im Krieg liegen, verursachte ein hastiger Klick von mir: ich habe ihn bei anderen unabsichtlich denunziert. Die Verhandlungsmöglichkeiten sind insgesamt sehr begrenzt. (Abb. Collage, eigener Screentshot, PC)

Ihre Tätigkeit scheint Spione auch nicht übermäßig zu motivieren, denn sie arbeiten viel zu träge. Kann man sich feindselige Staaten schon mit der rudimentären Diplomatie nur unzureichend auf Distanz halten, so würde man doch gern wenigstens Informationen über sie sammeln. Um militärische Stärke, Finanzkraft und Produktion auszuspionieren, kommen die Agenten sehr gelegen, zudem schützen sie heimatliche Bezirke durch Spionageabwehr. Die wichtigen Spezialdistrikte könnten sonst empfindlich sabotiert werden, was die eigenen Spione natürlich in fremden Reichen wiederum gern in die Tat umsetzen. Dafür müssen die Agenten jedoch nach und nach ihren Einfluss ausbauen. Bis sie wirklich effektiv sind, vergehen oft Jahrzehnte, wenn sie nicht in der Zwischenzeit erschossen oder auf der Flucht geschnappt und eingeknastet werden.

Es ist ja nichts Persönliches

Im letzteren Fall lassen sich Gegner die Auslieferung gern vergolden. Die Verhandlungen produzieren gelegentlich sogar neue Zwischenfälle. Solche Anlässe, von denen es einige im Spiel gibt, können in plötzliche Feindschaften und sogar Waffengänge führen, weil sie den Kriegswillen der Bevölkerung beeinflussen. Denunziation und Beleidigungen schaffen bewusst ein angespanntes diplomatisches Klima. Zudem sorgen etwa bestimmte Bedingungen für den Vorwand einer kolonialen Strafexpedition oder eines Glaubenskrieges. Zieht man ohne die – zuweilen murrende – Zustimmung der Bevölkerung in einen Krieg, drohen rebellische Aufstände im Inland, die den Konflikt schnell in eine Katastrophe verwandeln.

Insbesondere, was die persönlichen Einstellungen von anderen Herrschern angeht, verbreitet allzu große Unwissenheit über die Beziehungen zwischen den Staaten eine gewisse Unruhe im Spiel. Denn die gegnerischen Anführer verfügen nun über eine öffentliche, sichtbare Agenda, eine zweite, die geheim ist, kann jedoch nur durch langes Einwirken eines guten Spions enttarnt werden. Dabei geht es durchaus überraschend zu. Öffentlich vertrat Ghandi in einer meiner Partien erwartungsgemäß eine sehr friedliche Einstellung. Seine verdeckte Agenda aber offenbarte schließlich einen veritablen Nuklearwaffen-Fetisch. Nicht nur bewunderte er Machthaber, die über atomare Arsenale verfügen, gegen unbewaffnete Mächte würde er sogar, ohne zu zögern, Nuklearschläge einsetzen. Donnerwetter! Spionage ist daher zwar langatmig, aber offensichtlich wichtiger als früher, denn die Persönlichkeiten setzen ihre Ziele auch in die Tat um. Ja, auch Atom-Gandhi stellte das unter Beweis.

Der Zufallsgenerator für die verdeckten Agenden sorgte für die Rückkehr einer Legende. Atom-Ghandi liebt zwar den Frieden, setzt aber im Zweifel sein nukleares Arsenal ein. Gut, dass meine Spione das rechtzeitig ermittelten. (Abb. Collage, eigener Screenshot, PC)
Der Zufallsgenerator für die verdeckten Agenden sorgte für die Rückkehr einer Legende. Atom-Ghandi liebt zwar den Frieden, setzt aber im Zweifel sein nukleares Arsenal ein. Gut, dass meine Spione das rechtzeitig ermittelten. (Abb. Collage, eigener Screenshot, PC)

Künstelnde Unintelligenz

Funktioniert der diplomatische Part mit der an sich viel versprechenden Agenten-Hatz und den interessanten Persönlichkeiten schon nur holperig, so beschädigt ->Civilization VI ein sehr viel größeres Problem. Dieser negative Aspekt ist sogar derartig desaströs missraten, dass sein Ausmaß angesichts der langen Serientradition regelrecht verblüfft. Keiner der Teile hatte bislang eine so dürftige Künstliche Intelligenz (KI). Dieses Defizit erstaunt dann doch sehr, gilt doch vielen Spielern das Computerverhalten des Vorgängers ab dem Addon ->Brave New World als sehr gut. Wer gerne kriegerisch agiert, wird keine Freude an Gegnern haben, die noch im Atomzeitalter mit Speeren nach Panzern mit Uranmunition werfen. Nicht einmal da wird die KI stutzig und denkt einmal gründlich nach. In manchen Partien hört die KI einfach auf, das Umland zu bebauen und zu kultivieren.

Ich muss zugeben, dass ich trotz mehrerer komplett durchgespielter Partien keinen Schimmer habe, was genau die bockige Streikhaltung auslöst. Manche Stadt wird vorbildlich mit Infrastruktur versehen und glänzt mit Wundern. Es scheint mir, als gebe es Ereignisse, welche die Kreise der Engine stören, wonach sie die Arbeit einstellt. Auch höhere Schwierigkeitsgrade beeindrucken nicht durch intelligenteres Verhalten, dort erdrücken die Gegenspieler schlicht mit Aggressivität und Einheitenmassen. Für meinen Spielstil liegt darin auch keine Lösung des Problems. Daran muss ein Patch wirklich dringend etwas ändern, wenn so ein Eingriff am offenen Herzen überhaupt noch durchführbar ist.

Während meine Chinesen bereits mit Raketenkreuzern patrouillieren, drücken sich auf der anderen Seite der Meerenge noch Triremen und Streitwagen herum. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Während meine Chinesen bereits mit Raketenkreuzern patrouillieren, drücken sich auf der anderen Seite der Meerenge noch Triremen und Streitwagen herum. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Ein Festival des Friedens

Für viele, die eine Spielmechanik wie in den Neunzigern lieben, dürfte das sechste Civilization daher einer der enttäuschendsten Teile der Reihe sein. Natürlich finden diese Spieler auch in der schieren Masse von Gegnern eine Herausforderung – nur eben keine geistig sonderlich anspruchsvolle. Wer nur ein wenig taktisches Gespür mitbringt, manövriert feindliche Einheiten schnell an die Wand, zumal jedes Feld des Spielplanes nur eine Einheit fasst. Zwar erlaubt das Spiel später in Grenzen, Einheiten zu Armeen zu kombinieren, dennoch bleibt es bei einem Armeetyp pro Sechseck. So unüberlegt, wie der Computer seine Truppen zieht, lässt er sich häufig blockieren, wenn die eigenen Armeen geschickt aufgestellt sind. ->Civilization VI gelingt es leider nicht, eine würdige Herausforderung für Strategen zu bieten, besonders für jene mit Serienerfahrung.

Paradox ist es schon, aber so schlecht der militärische Teil abschneidet, so viele andere Schwächen ich auch aufgezählt habe, handelt es sich aus meiner Perspektive um den besten Teil der Reihe. Einerseits liegt es daran, dass sich aus der neuen, wichtigen Rolle des städtischen Umlandes der Raum zwischen den Siedlungen viel kreativer nutzen lässt als bei den Vorgängern. Dadurch entsteht ein forderndes und pittoresques Puzzle, das friedlichen Spielern viele Möglichkeiten schafft, den eigenen Staat zu optimieren. Wächst das technologische Potential muss so manches wieder umstrukturiert werden. Als Aufbauspiel ist ->Civilization VI daher einfach fantastisch.

Zwar steht die Sydney Opera im chinesischen Yiyang, schmiegt sich aber durch das neue Umlandsystem sehr ansehnlich in die Brandung an den Klippen der Bucht. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)
Zwar steht die Sydney Opera im chinesischen Yiyang, ihre Baustelle schmiegt sich aber durch das neue Umlandsystem sehr ansehnlich in die Brandung an die Klippen neben dem Überseehafen. (Abb. Ausschnitt, eigener Screenshot, PC)

Hinzu kommt als zweiter großer Pluspunkt, dass die anderen Spielziele neben der militärischen Ausrichtung endlich nicht mehr nur Dreingaben sind, sondern ähnlich komplex die Brust schwellen lassen wie der kriegerische Zweig. Außerdem befinden sich alle wichtigen Spielkonzepte nun schon mit der Grundversion im Spiel. Im heutigen Zeitalter, wo jede zusätzliche Mücke als DLC verkauft wird, ist diese Vollständigkeit im Vergleich mit den Vorgängern sehr erfreulich. Zählt man das Umland der Städte hinzu, ist schon die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung angenehm komplex. Zudem beeindruckt die religiöse Spielmechanik, selbst wenn sie mäßig erklärt ist. Das Spionagesystem ist bei aller Trägheit im Grundsatz spannend und glänzt zusammen mit den Agenden der Persönlichkeiten erst richtig.

Eine Schule fürs Leben

Wie es die vorherigen Absätze andeuten, ist das sechste Civilization für jeden ein anderes Spiel. Jeder bringt seine Vorstellung von Zivilisation durch die eigene Spielweise mit. Je nach dem Modell im Kopf, der Auffassung davon, welche Faktoren die menschliche Geschichte bestimmen und wie historische Prozesse ablaufen, lenkt die Vielzahl an spielerischen Optionen das Spiel in eine bestimmte Richtung. In meinem Fall gelingt es mir nicht einmal unter Vorsatz, andere Staaten militärisch einzuebnen. Für ein Spiel ist dieser Bedürfnissensor eine große Leistung. Gerade weil die Gebietsreform als spielmechanischer Katalysator für die eigene Spielweise dient, führt ->Civilization VI die Spielenden auf einen Selbstfindungstrip.

Schade nur, dass in der Regel niemand den Kontrast mitbekommt, wie jemand Anderer seine Zivilisation aufbaut, solange man nicht „Let’s Play“-Videos bei Youtube durchforstet. Nur im Austausch untereinander aber dürften Spieler diese geschichtstheoretische Ebene überhaupt bemerken oder gar reflektieren. Ideal wäre ein solcher Austausch im schulischen oder akademischen Unterricht. Bisher wird in der Literatur und im schulischen Unterricht oft der dritte Teil thematisiert, der zurecht für sein katastrophales Geschichtsmodell zwischen Imperialismus und Nationalismus kritisiert wird. An ->Civilization VI aber ließe sich nun trefflich über verschiedene Geschichtsphilosophien streiten. Lehrende könnten die koexistierenden Spielweisen der neuen Generation in mehreren Gruppen von Schülern oder Studierenden gegenüberstellen. Zusammen mit dem dritten Teil ließe sich auch an der Geschichte der Reihe thematisieren, wie sich ihre Geschichtsdeutungen verändert haben.

Durch mehr Verständnis, was aus solchen Denkmustern folgt, ließe sich mittelfristig sogar der allgegenwärtige, gesellschaftliche Bruch überwinden: Rückwärtsgewandte Objektivisten, die einfach nicht vom absoluten Anspruch der Moderne auf eindeutiges Wissen lassen können, könnten zumindest verwirrt werden. Im besten Fall jedoch entdecken Anhänger des Einfachen, wie unplausibel und überholt ihr Denken ist (Siehe meinen ->KOMMENTAR: Gibt’s das auch als Film? Teil 2: Die Altlast des Objektivismus vom 11.9.2016). Progressiven, differenziert denkenden Menschen, welche die Last und den Reiz der Postmoderne verstehen, aber beides nur schwer veranschaulichen können, könnte ->Civilization VI sehr bildlich bei der Argumentation helfen. Der Urvater der digitalen Strategie bietet also nicht nur für das Umland von Städten eine gelungene Reform, sondern auch eine dringend benötigte auf geistigem Gebiet.

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