Teil 2 – Altlast des Objektivismus
Schon lange hatte ich geplant, dem Spielejournalismus in seinen verschiedenen Formen, einen umfassenden Beitrag zu widmen. Der Artikel sollte vor allem die gegenwärtige Lage der Redakteure und TV-Produzenten kommentieren – mit einem Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum. In jüngster Zeit brechen sich nun zahlreiche Entwicklungen Bahn, welche dem Spielejournalismus rasant ein neues Gesicht verleihen. Es ist höchste Zeit, dass mein Blog in einen Rundumschlag den gegenwärtigen Status zusammenfasst. Angesichts der Vielzahl von Veränderungen konnte dieser Überblick nur sehr lang werden. Daher erscheinen im Abstand von wenigen Tagen mehrere Blogbeiträge zu verschiedenen Facetten. Die Serie schließt mit einer Bewertung der jüngsten Veränderungen und einem ebenso vorsichtigen wie gewagten Ausblick.
Teil 2 – Altlast des Objektivismus
Teil 3 – Der digitale Tsunami
Teil 4 – Netzwerk-Knoten
Teil 5 – Die Youtubisierung des Abendlandes
Teil 6 – Ein vorsichtiger Ausblick (folgt)
Objektivismus-Comedy
Das bezüglich des Spielejournalismus einleitend geschilderte Verlangen vieler Menschen, dauerhaft gültige, absolute und messbare Wertungen und Meinungen vorgesetzt bekommen, scheint sich zu einer grassierenden Epidemie auszuweiten. Man muss sich nur umsehen, wer zurzeit überall aus braunem Urschleim hervorkriecht, um alles ganz sicher und definitiv und eindeutig zu wissen – und dann auch noch herauszuposaunen. Weil er es bei Facebook gelesen hat. Oder an der Kasse bei Penny gehört. Geht’s noch!?
Lügenpresse, Verschwörung der Konzerne, Reichsbürger, Chemtrails, völkische Überfremdungsrhetorik. Es ist unfassbar, wie sich viele unter ihrem Wahlspruch: „Man wird doch noch mal sagen dürfen!“ zu unsäglichem Nonsens entblöden. Solche Botschafter des Absoluten schämen sich nicht einmal mehr, ihren vereinfachten Schwachsinn montags auf öffentlichen Plätzen zu skandieren. Die Dümmlichkeit, mit der in diesem Zusammenhang Objektivität eingefordert wird, hat mittlerweile in der Gesellschaft Ausmaße angenommen, die direkt proportional am Zulauf zu Pegidisten, zur AfD und zu den Brüllaffen mit pathologischem Lügenpresse-Fetisch zu messen ist.
Warum ich an dieser Stelle Contenance missen lasse? Wir Historikerinnen und Historiker kennen das Problem schon seit langer Zeit sehr gut. Ausgewogenheit und Multiperspektivität werden immer wieder dahin missverstanden, wir wollten uns nicht festlegen. Wie oft werden wir aufgefordert: „Erzähl doch mal. Wie war das wirklich damals im Mittelalter / bei Friedrich Wilhelm / an der Ostfront?“ Jede und jeder von uns neigt mittlerweile zu Augenrollen bei solchen Fragen, weil die Erwartungshaltung, die dahinter steht, nie erfüllt werden kann. Wir können nur verschiedene historische Perspektiven aus medialen Quellen herausarbeiten, die uns die Vergangenheit überliefert hat. Niemand also weiß definitiv, wie die Vergangenheit ausgesehen hat. Nein, auch Guido Knopp und seine ergraute Zeitzeugenarmee nicht. Und schon gar nicht wildgewordenen Horden brauner Brüllaffen.
Viele Vergangenheiten existieren nebeneinander, weil sie immer von der Interpretation aus unserer heutigen Perspektive abhängen. Sie plausibel zu erläutern und zu gewichten, ist die Aufgabe von Historikern. Jeder selbst muss für sich Schlüsse daraus ziehen; ich weiß, selbst zu denken, ist fürchterlich anstrengend. Aber, kommen Sie, man gewöhnt sich an alles. Wir haben ein echtes gesellschaftliches Bildungsproblem, wenn nicht mehr begriffen wird, dass verschiedene Perspektiven auf eine Angelegenheit nicht nur legitim sind. Sie liegen vielmehr in der Natur einer jeden Sache. Sie können Menschen sogar dabei helfen, die eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Eine solche Fähigkeit ist doch eigentlich eine schöne Vorstellung nicht nur für eine Gesellschaft, sondern auch für eine aufgeklärte Games-Kultur mit einem dazu gehörenden Spielejournalismus…
Die Sicht der Anderen
Im Mittelalter etwa vermochten vorwiegend Adel und Geistliche zu schreiben. Was wir also aus deren Federn über Bauern wissen, ist durch die Sicht der Ersteren erheblich gebrochen. Wenn adlige Schriften also die Faulheit und Ungehorsam der Bauern scharf verurteilen, sollte sich jeder klar denkende Mensch lieber eine zweite Meinung einholen. Wie vielfach angenommen, handelt es sich auch nicht um ein reines Problem der Geisteswissenschaften, weil diese angeblich so beliebig wären.
Noch vor einhundert Jahren konnten in der Physik die Modelle von Newton nicht das ganze Verhalten von Himmelskörpern und des Lichts erklären. Dann rüttelte Einstein am physikalischen Weltbild, indem seine Theorien Massen in Energie umwandelten, den Raum durch die Schwerkraft krümmten und das Verhalten relativer Bezugssysteme mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten erklärten. Doch auch das genügte nicht, vor allem in subatomaren Bereichen: So schuf die Quantenmechanik eine befremdliche Welt aus Teilchen, die gleichzeitig Wellencharakter haben, oder von Gluonen, die stärker ziehen, je weiter sie von ihren Quarks entfernt sind. Sie schufen eine Welt voller Unschärfen, Wahrscheinlichkeiten und ambivalenter Zustände.
Wer glaubt, nun sei aber das naturwissenschaftliche Weltbild komplett, der vergisst, dass die Gravitation gegenwärtig noch nicht so recht in die übrigen Kräfte passen will. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch der heutige Weltentwurf durch neue Erkenntnisse erschüttert wird. Ja, vielleicht geschieht das sogar, weil man dem Rätsel der Zeit selbst auf die Spur kommt. Die Weltmodelle der Physik gelten je nach Fall, der betrachtet wird, so dass gerade an den Übergängen der Modelle ihre Gültigkeit ausfranst.
Geisteswissenschaftliche Denkmodelle wie Luhmanns Systemtheorie, Foucaults Lehre von dem gesellschaftlich Sagbaren und dem Unsagbaren oder Bourdieus soziokultureller Ressourcenkampf gelten genau so nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Und dennoch führen sie wie ihre naturwissenschaftlichen Gegenstücke zu wesentlichen Erkenntnissen in der Forschung. Aufregend sind sie daher, alle Wissenschaften, weil nie etwas fertig ist und nie ganz eindeutig. Es kommt immer auf den Blickwinkel und das angelegte Modell an, ob etwas Sinn ergibt. Eindeutigkeit ist etwas für Einfältige.
Qualitätsjournalismus
Womit wir nach diesem grundlegenden Exkurs in Wissenschaftsphilosophie wieder dort angelangt sind, wo ständig nach eindeutigen, definitiven Urteilen gerufen wird. Dass absolute Urteile nicht nur bei journalistischen Bewertungen oder in geisteswissenschaftlichen Arbeiten unsinnig sind, sondern sogar in der Physik, sollte zum Nachdenken anregen. Auch wenn es Geisteswissenschaften gern vorgeworfen wird, werden Aussagen dadurch nicht beliebig. Die Herausforderung ist dagegen, möglichst viele Sichtweisen mitzudenken. Genau hierin liegt die große Bedeutung von Geisteswissenschaften für die heutige Gesellschaft.
Wer sich also davor fürchtet, nun gar nicht mehr von fachkundigen Meinungen geleitet zu werden, der sei beruhigt. Auf die Seite, die einem dann am plausibelsten erscheint, darf man sich trotzdem schlagen. Allerdings gibt es auch einen Haken: Anstelle sich im Spielejournalismus dem Selbstbetrug durch absolute Zahlenwerte hinzugeben, muss man folglich dazu bereit sein, selbst zu denken. Ein positiver Nebeneffekt davon: Leser und Zuschauer könnten sich wieder daran gewöhnen, auch mal andere Perspektiven als die eigene einzunehmen. Eine Fähigkeit, die sich in Deutschland gegenwärtig ruhig wieder verbreiten darf. Bevor sie unter den Kot werfenden Bewohnern des „tausendjährigen“ Affenfelsen wieder in Vergessenheit gerät.
Deren Reichweite hat sich natürlich in Zeiten der digitalen Kommunikationsmittel deutlich erhöht. Die großen Vereinfacher hat es schon immer gegeben – nur saßen sie vorher mit ihren Thesen in ihrem Kuhkaff bei ihren Bieren und fanden nicht so viel Gehör. Heute verabreden sie sich dank der digitalen Welt ständig irgendwo und gehen spazieren.
Insofern ist natürlich nicht in Abrede zu stellen, dass diese digitalen Kommunikationsformen und Technologien nicht ohne Einfluss auf den Spielejournalismus blieben. Nach der Jahrtausendwende gab es einige Versuche, daraus Kapital zu schlagen, im Grunde hat der digitale Tsunami den Journalismus jedoch heftigst durchgerüttelt, ohne dass wirklich tragfähige Wertschöpfungen entstehen konnten. Im folgenden Teil dieser Reihe werde ich den Blick auf diese Entwicklungen lenken.
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4 Gedanken zu „KOMMENTAR: Gibt’s das auch als Film? (Teil 2)“