KOMMENTAR: Indie Fresse, Crowd!

Das unredliche Verhalten von Entwicklern spielerfinanzierter Projekte gefährdet den Boom innovativer Ideen

John Walker platzte der Kragen. Nein, nicht dem mit dem Whiskey, sondern dem international bekannten Journalisten ->John Walker, einem der Gründungsmitglieder der britischen Webseite ->RockPaperShotgun. Als er ein Interview mit ->Peter Molyneux führte, einem von mir sehr geschätzten, und doch zu recht umstrittenen Spieleentwickler, warf Walker ihm rundheraus die Frage an den Kopf: „Do you think you’re a pathological liar?“ (siehe ->Peter Molyneux Interview: „I haven’t got a reputation in this industry anymore“, in: RockPaperShotgun vom 13. Februar 2015). Den weiteren Verlauf des Interviews, dem eine heftige Kritik an Molyneuxs gegenwärtigem Projekt ->Godus vorausgegangen war, als emotional zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Selten lagen Nerven auf beiden Seiten in der Branche so blank.

Warum das Interview von Rock Paper Shotgun mit Peter Molyneux emotional so explosiv geriet, klärt nur ein tiefer Blick in die Branche. (Abb.: eigener Screenshot, Webseite RPS)
Warum das Interview von Rock Paper Shotgun mit Peter Molyneux emotional so explosiv geriet, klärt nur ein tiefer Blick in die Branche. (Abb.: eigener Screenshot, Webseite RPS)

Dass Molyneux die Ansprüche seines Projektes ->Godus nicht mit dessen offensichtlichen Defiziten in Einklang bringen konnte, thematisierte ich anfang dieses Jahres auch schon in einem Blogartikel (siehe ->INNOVATION: Die Götter müssen bekloppt sein vom 28. Januar 2015). Walker war über die Kombination aus dem rudimentären Stand des Projektes und der Weigerung Molyneuxs dies zuzugestehen, zunehmend aufgebracht. Salve um Salve prasselte auf den verdutzten Entwickler Kritik ein, die von falschen Versprechungen an die Kunden handelte. Schließlich hatten die Spieler Molyneuxs Projekt auf einer Spendenplattform vorfinanziert. Und die Liste dieser falschen… nun, sagen wir, noch nicht eingelösten Versprechen ist sehr lang.

Dass allein hätte aber kaum genügen dürfen, um einen erfahrenen, professionellen Journalisten wie ->John Walker derart außer Fassung zu bringen. Unermüdlich peitschten die Fragen auf den Entwickler ein, zufriedenstellende Antworten indes gab es nicht. Letztlich ließ sich Molyneux nur zu einigen fast schon peinlichen, selbstmitleidigen Äußerungen hinreißen: solche Gespräche seien der Grund, weshalb er sich in der Games-Branche nicht mehr wohlfühle und kein Standing mehr habe. Das tut mir zwar sehr leid, die Ursache dessen sind jedoch nicht die fragenden Journalisten, sondern sein Verhalten – und das anderer Entwickler auch. Da fällt auch mir, den seine einfallsreichen Spiele oft begeistern, nur wenig zur Verteidigung ein.

httpvh://youtu.be/V0P9yYG0G5I
Im Community-Update des Entwicklers 22cans vom Februar 2015 schwingt die Spannung wegen der zahlreichen kursierenden Vorwürfe mit. Es gelingt Molyneux nicht plausibel, die Bedenken zu zerstreuen: Dass zum Beispiel ein Mitglied der PC-Community eingestellt wurde, ist für denjenigen möglicherweise ganz schön, nur ist wenig glaubwürdig, dass er ein geschrumpftes Team kompensieren kann. (Godus Community Update Februar / Kanal 22cans via Youtube)

Führt man sich vor Augen, wie emotional das Interview verlief, scheint sich dahinter viel mehr zu verbergen als nur ein schlechter Tag zwischen zwei Gesprächspartnern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich an dieser Stelle eine grundsätzliche Spannung zwischen Entwicklerbranche und Konsumenten entladen hat, die nicht nur Molyneuxs ->Godus betrifft. In jüngerer Vergangenheit verhielt sich so mancher Spieleentwickler nicht sonderlich professionell und vertrauenswürdig. Jedenfalls nicht so, wie man es von jemandem erwarten würde, der im Vorhinein Geld von Kunden erhält, um die eigenen Spielkonzepte zu verwirklichen.

Ein solches Crowd-Funding ermöglicht, wenn es verlässlich durchgeführt wird, große Chancen für Spielideen, die ein Publisher sonst nie veröffentlicht hätte. Andererseits mehren sich mittlerweile Berichte wie bei ->Godus, in denen die Ankündigungen von Entwicklern zu den Spielinhalte und -funktionen in keinem Verhältnis mehr zum realisierten Stand und den teils erheblichen Finanzvorschüssen stehen. Darunter finden sich neben Molyneux durchaus weitere namhafte Größen der Branche. Setzt sich dieser Trend fort, könnten die Entwickler schon bald so viele Förderer vergrätzt haben, dass dem Crowd-Funding der Todesstoß versetzt wird. Wer die lethargische Branche vor den durch Spieler finanzierten Ideen erinnert, in der innovationsarme Großpublisher die Fäden in der Hand hielten, dem dürften solchen Aussichten schlagartig die Haare schlohweiß färben…

Go, fund yourself!

Um Spielkonzepten eine Chance zu geben, denen Publisher nur mit einem spitzen Lächeln begegneten, rotteten sich vor fünf bis sechs Jahren immer mehr Spieler im Netz zusammen. Viele von ihnen waren gleichermaßen genervt und gelangweilt von den immergleichen, innovationsarmen Aufgüssen der großen Spieleverlage, wie sie sich von ihnen gegängelt fühlten. Irgendwelche schlipstragenden Marketingentscheider bewiesen unablässig, dass die Publisher vorrangig deswegen immer dasselbe produzierten, weil ihr Sachverstand bezüglich des Videospielemarktes sehr oberflächlich war.

So hieß es dort jahrelang, rätsellastige Abenteuerspiele seien anachronistisch, bis unter anderen der Hamburger Newcomer ->Daedelic sich dem Genre wieder annahm. Die gehässigen Lacher verstummten, als die Hamburger mit ihren liebevollen Rätselphantasien zunehmend Erfolge einfuhren. Auch in Weltraumflug-Simulationen sahen Publisher keine Zukunft mehr, bis ->Star Citizen einen Rekord im Crowd-Funding nach dem anderen übertraf. Mittlerweile zählt die Webseite der Entwickler ->fast 76 Mio. $ an Investitionen. Kurzum: Publisher erwiesen sich letztlich in der Regel als unfähig, neue Produkte und Kundenkreise zu erschließen, und molken dafür lieber jede Marken-Kuh zu Tode, die auch nur ein Mal überdurchschnittlich viele Liter Profit erwirtschaftet hatte.

httpvh://youtu.be/lJJ9TcGxhNY
Ein unerhörter Senkrechtstarter unter den Crowd-finanzierten Videospielen ist das Weltraum-MMO Star Citizen, von dem bislang nur einzelne Module existieren und das bei seinem Release 2016 entweder ein Knaller wird oder als Implosion verglüht. Nachahmer gibt es jedenfalls schon zuhauf. (Imagine: Star Citizen / Kanal StarCitizen via Youtube)

Aufgrund dessen nutzten findige Entwickler zunehmend Webseiten wie ->Kickstarter und ->IndieGoGo, um ihre Projekte an den Publishern vorbei zu initiieren. Um dort Mittel einzuwerben, setzen sie Kampagnen auf, welche die Spielidee in Skizzen, Animationen illustrieren und mit Interviewpassagen erläutern. Zudem müssen sie Ziele definieren, die erreicht werden sollen: ein Minimalziel und weitere Etappen. Werden diese Ziele, die sogenannten „Stretch Goals“ erreicht, versprechen die Entwickler beispielsweise, die Spielwelt zu erweitern, mehr Abenteuer zu erzählen oder größere Schauplätze einzurichten, ermöglichen orchestrale Tonaufnahmen oder die Umsetzung auf anderen Betriebssystemen. Erreicht das Projekt in einem gesetzten Zeitrahmen nicht zumindest das erste Etappenziel, so scheitert es, und das Geld wird zurück an die Spender gebucht. Dafür garantiert ein Betreiber wie Kickstarter als Treuhänder, indem er das Geld erst nach dem erfolgreichen Abschluss einer Kampagne freigibt. Um die Spender zu größeren Beträgen zu animieren, erhalten diese für größere Summen auch mehr Dreingaben zu einem Spiel. Erwirbt man beispielsweise für 15 Dollar etwa nur einen besonders frühen Zugang zur ersten spielbaren Version, können für 50 Dollar umfangreiche Fanpakete enthalten sein. Beträge von mehreren tausend Dollar ermöglichen oft die aktive Mitgestaltung an einem Projekt – oder sogar, selbst darin als Figur zu erscheinen. (Übrigens gibt es für Forschungszwecke auch die Plattform ->Sciencestarter, die nach demselben Muster funktioniert.)

Auf den Projektseiten bei Kickstarter startete schon so manches Videospiel in eine glorreiche Zukunft. (Abb.: eigener Screenshot, Webseite Kickstarter)
Auf den Projektseiten bei Kickstarter startete schon so manches Videospiel in eine glorreiche Zukunft. (Abb.: eigener Screenshot, Webseite Kickstarter)

Probleme hat – genau so wie ein Publisherwesen, das Innovationen hemmt – auch die spielerfinanzierte Variante. Mal davon abgesehen, dass Menschen hier bereit sind, bis zu einem Vielfachen des Betrages zu bezahlen, den das geplante Spiel eigentlich wert ist, steht es in den Sternen, ob es überhaupt zu Ende entwickelt wird. Einerseits ist der Entwicklungsprozess von einem digitalen Spiel schwer vorabzusehen, und deswegen auch nur vage zu kalkulieren. Andererseits bitten die Entwickler häufig nicht um die wirklich benötigte Summe, weil sie fürchten, sie würden überhaupt nichts erhalten, sollten sie eine zu hohe Hürde ansetzen. Daher berechnen sie häufig nicht alle Kosten einer dazu gehörenden Kampagne ein, gemessen in Arbeitszeit und finanziellen Ressourcen für die Werbe- und Bonusmaterialien. Auch die Funding-Plattformen im Internet verdienen an den Projekten mit, so dass die ursprünglich eindrucksvollen Beträge zusammenschmelzen.

Um Stretch Goals anbieten zu können, stellen Entwickler zudem nicht selten Ziele in Aussicht, die ebenso spektakulär wie technisch schwer zu erreichen sind. Das ist sicherlich der beste Weg, um den Zorn seiner Unterstützer auf sich zu ziehen, wenn diese Features dann doch gestrichen werden müssen. Auf der anderen Seite tummeln sich viele interessante Spielideen auf diesen Crowd-Funding-Plattformen. Davon gibt es sogar so viele, dass man sich fragt, ob die Publisher-Giganten mit ihrer Marktforschung eigentlich den ganzen Tag Däumchen drehen.

Die Wahrheit von den Göttern

An vielen Stellen in meinem Blog habe ich auf erfolgreiche Projekte hingewiesen, die aus Crowd-Finanzierung stammten, so dass ich mir  ausnahmsweise erlaube, mich auf die erheblichen Fehlentwicklungen zu konzentrieren. Da ich die Entwicklung von ->Godus lange verfolgt habe, muss ich einräumen, dass es sich als Beispiel dafür leider recht gut eignet. Molyneux’s Studio ->22cans hat von den im vorigen Absatz genannten Punkten so einige falsch gemacht. Da verbreitet das Interview von John Walker sicherlich keine Unwahrheiten.

httpvh://youtu.be/oKN7-BdeKzo
Ausführlich stellte Molyneux im Gespräch mit Adam Sassler von Revision3 seine Visionen zu Godus und die Betaversion von 2013 vor – leider könnten beide kaum weniger mit dem gegenwärtigen Projektstand zu tun haben. (GODUS Gameplay Demo! / Kanal Rev3Games via Youtube)

Anfangs versprach Molyneux packende Erzählungen, die bis heute nicht realisiert sind, sowie aufregende Kämpfe gegen andere Spieler, doch ein Multiplayer-Part ist nicht in Sicht. Wie ich in meinem Beitrag im Januar herausstellte, ist das Gameplay – bis auf ein Feature, die Landschaft per Touchdisplay zu terraformen – nicht innovativ, sondern repetitiv und ermüdend (siehe ->INNOVATION: Die Götter müssen bekloppt sein vom 28. Januar 2015). Getestet hatte ich die Android-Variante.

Heute behauptet das Entwickler-Urgestein, die erbetene Summe hätte niemals genügt, um das Spiel fertig zu entwickeln. Vergleicht man den ursprünglich ausgelobten Betrag von 450.000 Britischen Pfund jedoch mit dem, was die Entwicklung anderer Videospiele im Mobile-Segment und auf Tablets kostet, ist das aber bereits ein recht gehobener Etat. Selbst wenn man zugute hält, dass das Feature mit dem Terraforming per Fingerzeig entwickelt werden musste, steht dem gegenüber, dass Molyneux letztlich sogar 527.000 Pfund einstrich (siehe Archiv von ->Projekt GODUS by 22cans auf Kickstarter.com). Obendrein verbirgt sich dahinter noch die weitere Frechheit, wissentlich nicht genug Geld zu fordern, um das Spiel fertigzustellen, weil man fürchtet, dann mit der Kampagne gleich zu scheitern.

Mit seinem Studio hinterließ Molyneux rechts und links des Weges noch mehr Skandale, die ich hier nur anreißen kann: Weitere Mulitplayer-Modi wurden versprochen, eine tiefsinnige Geschichte, geschrieben von einem renomierten Autoren, Versionen für Linux und die Ouya-Konsole. Schon die Fassung für PCs kommt seit ihrem Release 2013 kaum voran; ->vernichtende Kritik auf der Vertriebsplattform Steam inklusive. Versprochen wurde auch, das Projekt bliebe im Interesse der finanzierenden Spieler frei von Publishern, doch es geschah das exakte Gegenteil. Zudem hat Molyneux einem Spieler, der ein paralleles Projekt des Studios entschlüsselte, die lebensverändernde Rolle als oberster Gott der Spielwelt in Aussicht gestellt, Beteiligung an den Einnahmen und am Entwicklungsprozess. Wie viel davon heiße Luft ist, oder ob alle zweifelhaften Umstände nur an einem sehr langen Verzug des Projektes liegen, ist von außen kaum zu beurteilen. Skeptisch macht das Verhalten des Entwicklers schon sehr. So unterblieb beispielsweise im Lauf von zwei Jahren jegliche Kommunikation mit dem Gewinner, obwohl dieser nach eigenen Auskünften den Support jeden Monat schon aus Prinzip anschrieb. Immerhin ist das Geld aus der Kampagne bereits im Dezember 2012 an ->22cans übergegangen; eine lange Zeit, wenn man sieht, wie viele Baustellen noch offen sind. Oh, Mann, Peter…

Schweine im Weltall

Mit diesem unrühmlichen Verhalten steht ->22cans leider nicht allein da. Das Weltraumspiel ->Planetary Annihilation strich im September 2012 sogar noch eine erheblich größere Spendensumme ein. Das Team ->Uber Entertainment hatte für eine runde Strategiespiel-Erfahrung im Weltraum ursprünglich nur 900.000 $ gefordert und sukzessive neue Ziele für die Finanzierung ausgelobt (siehe ->Planetary Annihilation auf Kickstarter.com). Am Ende standen sogar 2,2 Mio. US-Dollar auf dem Konto. Als Clou an diesem Spiel, das eine sehr erfahrene Crew des Echtzeit-Strategie-Genres entwickelt, waren von Anfang an gigantische, spektakuläre Raumschlachten vorgesehen, in denen sich Dutzende von menschlichen Spielern ganze Monde als Geschosse um die Ohren hätten werfen sollen. Da die Entwickler es schon in früheren Titeln verstanden, großskalige, packende Schlachten zu ermöglichen, trauten ihnen viele Kunden die Pläne auch zu.

httpvh://youtu.be/FhEYvOYceNs
Mit diesem typischen Kickstarter-Video eröffnete Uber Entertainment eine Kampagne, die mehr als zwei Millionen US-Dollar einspielte. Leider passt das Ergebnis nicht zu diesem Ertrag. (Planetary Annihilation Kickstarter Trailer / Kanal Uber Entertainment via Youtube)

Veröffentlicht wurde das Spiel jedoch in einem sehr unbefriedigenden Zustand. Der versprochene Singleplayer-Modus entpuppte sich als Folge aneinander gereihte Schlachtkarten (sog. Skirmish) und der angekündigte strategische Tiefgang im interplanetaren Kampf war mau. Dessen Kern sollten eigentlich Schlachten mit bis zu vierzig Mitspielern sein, wie die Kampagne bei Kickstarter vollmundig anpries. Daraus geworden sind jedoch nur zehn Kombattanten. Wie so etwas alles geschehen kann, ist mir ein Rätsel, sind die Entwickler doch mit ->Supreme Commander und ->Total Annihilation verantwortlich für zwei große Namen des Genres. Selbst das Tutorial ließ Einsteiger fassungslos zurück, weil es nur aus einem Video bestand, das viele Fragen offen lässt – insbesondere für alle, welche die genannten Vorgänger im Geiste nicht kennen.

Dabei hatten die Entwickler ->Planetary Annihilation trotz eines schlichten comicartigen Einheitenlooks optisch sehr stimmig herausgeputzt. Besonders  Lichteffekte in sternenabgewandten Planetenschatten können sich sehen lassen. Aus technischer Sicht geschahen aber auch Fehler von einer Nachlässigkeit, die ich solch erfahrenen Entwicklern nicht zugetraut hätte. So versuchten die Server des Spiels mehr Partien zu betreiben, als sie funktional überhaupt in der Lage gewesen wären. Auch die prozessorlastige Einheitenberechnung skalierte je nach Spielerzahl und Einheitenmassen schnell in Bereiche, die den Durchschnittsspeicher eines typischen PCs deutlich überschreiten. So endeten viele Partien mit einer Niederlage durch Absturz, weil der Arbeitsspeicher eines Teilnehmers nicht ausreichte. Wie kann so etwas sein?

Vielfalt – und viel Einfalt

Auch wenn mein Text den Eindruck erwecken mag, dass es nur um konkrete Einzelfälle gehe, ist dem nicht so. Im Gegenteil ist der Friedhof gescheiterter Versprechen bei crowd-finanzierten Projekten sehr groß geworden. Man trifft darüber hinaus wahre Bugseuchen wie das ambitionierte Zombie-Survival ->DayZ, das den Charakter eines Sozialexperimentes aufweist, aber in wesentlichen Teilen auch spielmechanisch noch wie ein Experiment wirkt. Es ist kein erfreuliches Spielerlebnis.

DayZ ist zwar als Teil des Early Access-Programmes von Steam ausgewiesen, aber rechtfertigt der Zustand dann das Preisniveau eines Vollpreistitels? (Abb. eigener Screenshot)
DayZ ist zwar als Teil des Early Access-Programmes von Steam ausgewiesen, aber rechtfertigt der Zustand dann das Preisniveau eines Vollpreistitels? (Abb. eigener Screenshot)

Solange die dortige Zombikalypse nur als Modifikation der Militärsimulation ->Arma II verfügbar war, und damit eine freie und kostenlose Ergänzung, konnte man das niemandem wirklich vorwerfen. Die mittlerweile professionell entwickelte, allein lauffähige Version von ->DayZ wird trotz ihrer Fehler auf der Plattform Steam weiter verkauft, auch wenn sie deutlich erkennbar als „Early Access“ gekennzeichnet wird. Der ursprüngliche Erfinder und Entwickler Dean Hall kündigte 2014 an, sich mit einem anderen Studio neuen Projekten zu widmen (->siehe Portrait auf Gamestar.de vom 19.12.2014). Immerhin prangt eine Warnung auf der Verkaufsseite, die davon abrät, das Spiel zu kaufen. Zu dem Meer an bestenfalls halbfertigen Zombikalypse-Survivals, das darüber hinaus noch angeboten wird, schreibe ich mich hier besser gar nicht mehr in Rage.

Gegenwärtig füllt sich die unangenehme Liste an Beispielen zu meinem Bedauern immer weiter. Die genannten genügen aber schon, um zu erkennen, auf welche Art am Ende immer die Kunden die Zeche zahlen. Letztlich wird ihnen so „entlohnt“, dass sie Vertrauen in erfahrene Entwickler setzen, manchmal sogar in Branchenlegenden wie ->Charles Cecil: Sein ->Baphomets Fluch 5: Der Sündenfall kassierte fast 800.000 Dollar bei Kickstarter und wurde von Fans der Reihe heiß ersehnt. Wer ein vollwertiges Spiel erwartete erhielt jedoch zunächst eine Überraschung: Es erschien in zwei Teile zerlegt, von denen der erste Abschnitt nur als Enttäuschung zu bezeichnen war: kurz, inhaltsarm, nicht besonders geistreich. Mittlerweile konnte ->Revolution Software den zweiten Teil nachliefern und schuf damit zuletzt doch noch ein recht rundes Spiel.

httpvh://youtu.be/7hDsmR2Z40M
Was Revolution Software als ersten Teil von Baphomets Fluch ablieferte, enttäuschte massiv. So aber konnten neue Einnahmen generiert werden, um das Spiel fertig zu stellen. (Baphomets Fluch 5 Trailer [Deutsch] / Kanal Deep Silver via Youtube)

Weil jene Profis in einem breit ausgetretenen Massenmarkt die Sehnsucht nach innovativen Spielkonzepten zu befriedigen versprechen, zückt so mancher seine Kreditkarte und spendet. Die Geldgeber aus der Spielerschaft zahlen einen Vorschuss auf dieses Vertrauen und warten geduldig auf erste spielbare Versionen. Sie freuen sich, weil die Konzepte ihren Vorstellungen folgen, die in Foren diskutiert werden, und sehen sogar ein, dass nicht alles am Ende so kommt, wie zuvor gedacht. So sieht jedenfalls das Ideal aus. Jane Jensen, die als Schöpferin der Gabriel Knight-Reihe in den Neunziger Jahren weltberühmt wurd, scheint dies mit ihrem Kickstarter-Projekt ->Gray Matter verstanden zu haben. Sie lieferte für die Spenden bei Kickstarter ziemlich genau das Spiel, das ihre Fans erwarteten. Von einer gewissen Zufriedenheit künden jedenfalls ->die Wertungen der Nutzer auf Metacritic.com.

In der Praxis gefährden immer mehr Scharlatane diese Vertrauensmodell. Kürzlich enttarnten User angebliche Screenshots der Entwickler „West Games“, deren angebliches Spiel ->Areal (hier via Kickstarter) sich als Kompilation kopierter Asset-Bausteine der ->Unity Game Engine erwies. Die Umstände dieser abenteuerlichen Räuberpistole fasst Sebastian Thor für das Webportal EuroGamer ebenso ungläubig wie übersichtlich zusammen (siehe ->Thor, Sebastian: Areal, der verrückteste Kickstart aller Zeiten, in: EuroGamer vom 30. Juni 2014). Der Hauptvorwurf: Nie gab es etwas von dem Spiel zu sehen, das da angeblich entwickelt wurde. Immerhin zeigt die Entdeckung dieses Vorfalls auch, dass angesichts einer aktiven Community nicht jede Unredlichkeit durchkommt. Die eigentliche Pointe kommt aber noch: Vor ein paar Wochen kaperten dieselben überführten „Entwickler“-Simulanten die Lizenz des Endzeit-Shooters ->Stalker und gingen nun damit auf Investorenfang (siehe ->Thor, Sebastian: Nach Areal-Aus: West Games ist zurück mit Stalker Apocalypse, in: EuroGamer vom 12.12.2014). Wer hier Geld spendet, muss mit dem Klammerbeutel gepudert sein. Bei diesem Beispiel handelt es sich sicher um einen besonders krassen Ausfall.

Im Weltraum hört Dich niemand schreien

Den meisten Projekten sollte daher kein böser Wille unterstellt werden, schließlich ist die Entwicklung von Games vom Grundsatz her schon voller Unwägbarkeiten. Seit einer Weile sind aber am Markt der Indiespiele – also grob all jenen, die als Entwickler nicht über einen großen Vertrieb veröffentlichen – sehr bedenkliche Entwicklungen zu beobachten. Rudimentär entwickelte Spiele werden via Plattformen wie ->Steams ->Early Access zu niedrigen zweistelligen Preisen auf den Markt geworfen, sind aber keine vollwertige Spiele, sondern teils fehlerhaft oder enthalten kaum spielbaren Content. Das wäre noch nicht einmal das Problem, würde der Zustand offen kommuniziert werden – leider heißt die Devise häufig Verschleierung: „Tarnen, Täuschen, Verpissen!“ Auch das kürzlich hier vorgestellte ->Hack’n’Slash reiht sich da leider ein (siehe ->NEWS: Ein Viertelpfund Gehacktes vom 17.2.2015). Man müsste sogar weitergehen und dessen Entwickler ->Double Fine eigentlich als die betrübliche Speerspitze dieses Trends bezeichnen.

Das tut mir wirklich und ehrlich leid, denn bislang hatte ich eine hohe Meinung über die Entwickler unter diesem Label. Deren Einfallsreichtum entsprangen geniale Spielideen wie die mental reisenden ->Psychonauts, die völlig aberwitzigen Abenteuer von Pseudo-Krieger ->Death Spank und der ebenso phantastische wie taktische Matrjoschka-Coup ->Stacking. Dies ist nur ein Auszug von Spielen, bei denen die Mitarbeiter von ->Double Fine enorme Schöpferkraft unter Beweis stellten.

Mitverantwortlich dafür ist sicherlich auch das innere Firmenklima. Wie Gründer ->Tim Schafer in einem Interview mit ->RockPaperShotgun erläuterte, stellt er für den internen GameJam „Amnesia Fortnight“ Resourcen und experimentelle Freiräume für vielfältige Konzepte von Firmenmitarbeitern bereit (siehe ->Walker, John: Inverview: Tim Schafer On The Amnesia Fortnight Bundle, in: RockPaperShotgun vom 19. November 2012). Schafer, die Entwicklerlegende von großen Klassikern wie ->Grim Fandango und ->Maniac Mansion 2: Day of the Tentacle, verfolgt damit ein ehrenwertes Ziel: er unterwandert den ewigen Einheitsbrei großer Blockbusterproduktionen mit innovativen Konzepten. Die internen Wettbewerbe stellen seine Ernsthaftigkeit bei diesem Ideenstreit unter Beweis. Weil die Öffentlichkeit daran beteiligt wird, welche Ideen verwirklicht werden, helfen die Wettbewerbe auch einzuschätzen, wie gut ein Titel unter zukünftigen Kunden ankommen könnte. Ausweis davon ist eine ->ausführliche Video-Dokumentation der zweiwöchigen Aktion auf Youtube. So wurden schon einige Projekte erfolgreich initiiert. An sich handelt es sich also um eine gute Idee.

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Sehr unterhaltsam kündigt Schafer den internen GameJam namens „Amnesia Fortnight“ 2014 mit einem Trailer an, in dem auch die Ideen der Mitarbeiter vorgestellt werden. (Amnesia Fortnight 2014 Launch Video / Kanal DoubleFineProd via Youtube)

Leider nehmen zur Zeit – zugegeben, nicht nur bei ->Double Fine – die Probleme zu: Nach langer Wartezeit für die Privatinvestoren aus der Community entstand zum Beispiel ein Adventure wie ->Broken Age, das – auch wenn es recht charmant inszeniert ist – spielerisch seicht bleibt, inhaltlich knapp bemessen ist und von viel zu kurzer Dauer. Zudem wurde das Spiel unplanmäßig in zwei Hälften zerlegt. Misst man dieses Ergebnis an den Einnahmen von 3,3 Mio. US-$, die Spieler und Investoren Schafer via Crowdfunding aufbrachten, hinterlässt diese Summe selbst den freundlichsten Kommentator sprachlos (siehe ->Kampagne bei Kickstarter).

->Double Fine leistet sich jedoch noch mehr Klopper: Die ebenfalls durch Fans vorfinanzierte Weltraumstation-Simulation ->SpaceBase-DF9 wurde eine Weile entwickelt, letztlich aber doch eingestellt. Mangels Kundeninteresse, wie es hieß. Offenbar hält dieser Umstand jedoch die Entwickler nicht davon ab, die unfertige Datenleiche weiterhin bei ->Steam für 20€ ahnungslosen Kunden zu verkaufen. Besonders prekär: Das Spiel wird dort sogar im Bundle mit ->Hack’n’Slash angeboten, was in Anbetracht des Zustands beider Titel wirklich eine Unverschämtheit ist.

Wie bei ->Broken Age oder dem oben erwähnten ->Baphomets Fluch 5: Der Sündenfall ist ein weiterer Trend sehr bedenklich. Bemerkbar ist, dass Entwickler auf breiter Front erzähllastigen Content in Episoden stückeln, die für sich immer seichter und interaktionsärmer werden. Sicher: Auch hier gibt es Unterschiede im Spektrum. Man stelle die Episoden-Geschichte von ->Dreamfall Chapters (->RedThread Games) einmal  ->Telltale Games‘ ->Game of Thrones gegenüber. Sonderlich tief schürfen die Narrationen jedoch im Episodenformat alle nicht, was ja auch verständlich ist, wenn jede Episode für sich einen abgeschlossenen Bogen spannen muss.

httpvh://youtu.be/A-Z_OZAh9PI
Das Episodenabenteuer zur HBO-Serie „Game of Thrones“ glänzt mit Stimmung und Atmosphäre, ist jedoch kaum mehr ein Spiel. (Game of Thrones: A Telltale Games Series – Episode 1, ‘Iron from Ice’ Launch Trailer | PS4, PS3 / Kanal PlayStation via Youtube)

Restauration – nicht immer nahrhaft

Dieses Verhalten am Markt verantworten gewiss nicht allein die hier aufgeführten Projekte und Entwickler – den hier genannten Beispielen kommt lediglich die (gewiss unangenehme) Rolle zu, die Symptome des krankenden „Crowd Funding“ und des „Early Access“-Prinzips zu illustrieren. Unter dem Geruch des Betruges werden auch die vernünftig geführten Projekte zu leiden haben. Wenn sich nicht bald stärkere Regeln durchsetzen sollten, welche die zahlreichen, nicht eingehaltenen Versprechen am Markt sanktionieren, werden mittelfristig alle durch die Spieler in Sippenhaft genommen. Natürlich stört dies nicht die Kreise einer Großproduktion wie die des Weltraumspiels ->Star Citizen.

Die Masse der Projekte ist jedoch deutlich kleiner und bittet um mittlere sechsstellige bis kleinere Milionenbeträge. Daher scheitern ihre Kampagnen auch leichter, sobald die Spieler sich angesichts des beschriebenen Verhaltens die Taschen zunähen. Besonders Exoten des Marktes wie das Rollenspiel ->Kingdom Come: Deliverance, das plausibel und realitätsnah einen Teil des mittelalterlichen Böhmens inszenieren will, könnten Schaden davon nehmen. Diverse Publisher wiesen das Projekt als zu ungewöhnlich ab. Dies lag daran,  dass Lead Designer Daniel Vavrà und sein Team von den Prager ->Warhorse Studios darauf beharrten, Magie und Drachen zum Beginn des 15. Jahrhunderts aus Böhmen auszusperren. Sie wollten ein möglichst authentisches Mittelalterbild inszenieren (siehe ->NEWS: Der Stand des Mittelalters, in: Keimling vom 18. März 2014).

Schließlich verhalfen ihnen Spieler über Kickstarter zu einem erklecklichen Sümmchen, auf das ein Investor noch einen Betrag nachlegte. Nun entsteht eines der interessantesten Spiele überhaupt, das den Umgang mit historischen Inhalten im Markt maßgeblich verändern könnte. Das ist nicht nur erfreulich, weil sich ein Entwicklerstudio endlich selbst den Fragen stellt, welche Rolle das Historische in einem Videospiel annehmen könnte. Darüber hinaus zeigt sein Erfolg eben auch, dass die lange gebetsmühlenartig wiederholte Marketingweisheit, Geschichte ginge am Markt nicht wissenschaftlich plausibel zu inszenieren, wohl nicht so weise ist.

httpvh://youtu.be/zVZXU6Xs-x8
„Kingdom Come: Deliverance“ ist schon jetzt in der frühen Phase seiner Entwicklung ein ungewöhnliches Mittelalter-Erlebnis. Die Entwickler versuchen so authentisch wie möglich, ein Stück Böhmens im 15. Jahrhundert nachzuzeichnen. Und legen auch die Grenzen ihrer Ambitionen offen. Ein vielversprechendes Projekt, das ohne Crowd-Funding an den Publishern gescheitert wäre. (Kingdom Come: Deliverance – Early Alpha Teaser / Kanal Warhorse Studios via Youtube)

Doch mutige Impulse in den Markt wie bei dem Prager Rollenspiel könnten bald der Vergangenheit angehören. Wer – wie ich – die Innovationsarmut eines von Publishern dominierten Marktes und seine routinierte Lethargie um 2010 noch allzu gut erinnert, den packt bei dieser drohenden Zukunft das kalte Grauen. Wenn aber der Scharlatanerie und dem Schlendrian nicht das Handwerk gelegt werden, dann gehe ich davon aus, dass die an sich guten Prinzipien von Crowd-Funding und Early Access deutlich an Bedeutung verlieren werden. Das wäre sehr bedauerlich. Auch wenn man dafür bei Weitem nicht allein ->Double Fine die Schuld zuweisen könnte, wäre es aber doch AUCH ihre Schuld.  ->Hack’n’Slash ist lange kein fertiges Spiel, und der löchrige Rumpf der ->SpaceBase-DF9 wird weiter fröhlich verkauft. Und wie das Beispiel ->Godus zeigte, hätte auch Molyneux dazu einen großen Beitrag geleistet.

Und neue Projekte stehen auch schon an. Ausgerechnet ->Double Fine widmet sich dem Remake des Klassikers ->Grim Fandango und kündigt eine HD-Special Edition von Maniac Mansion an (siehe ->Jäger, Sebastian: Maniac Mansion: Day of the Tentacle – Double Fine kündigt HD-Neuauflage an, in: gamona.de vom 17.12.2014). Diese Beispiele stehen für eine mögliche Konsequenz aus der Kickstarter-Misere: Was noch besser funktioniert als innovative Spielkonzepte, ist offenbar, Geld für die Neuauflagen bereits erfolgreicher Klassiker einzuwerben. Das erscheint besonders dann als folgerichtig, wenn verspieltes Vertrauen dadurch kompensiert wird, dass Spieler auf den Ruf einer legendären Entwicklergestalt vertrauen. Das wäre ein bestürzendes Ergebnis aus dem oben skizzierten Marktverhalten. Besonders dann, wenn die Legenden dann wiederum den legendären Ruf durch ihr Verhalten schädigen. So könnte sich die Indieszene schnell selbst das Wasser abgraben – und schon bald wieder in einem Markt erwachen, in dem die Publisher alles dominieren… und wieder keinen blassen Dunst von den Wünschen der Spielerinnen und Spieler haben.

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