DIGITAL GAME-BASED LEARNING: Stolpersteine

iPhone-App reichert Gedenkklötze mit Informationen an

Verschiedenste Schicksale verbergen sich hinter den unaufdringlichen Steinen, die häufig im Trottoir ehemals von jüdischen Einwohnern bewohnter Stadtteile im Sonnenlicht glänzen. Die ->“Stolpersteine“ markieren in 415 Städten allein in Deutschland und darüber hinaus auch in Europa Wohnorte von Menschen, die zwischen 1933 und 1945 aus ihren Häusern und aus ihrem Leben gerissen wurden – gedemütigt, deportiert und ermordet.

Darüber stolpern nur iPhone-Kunden
Darüber stolpern wohl nur iPhone-Kunden

Der Künstler Gunter Demnig schafft mit den in Gehwege eingelassenen Messingwürfeln besondere Gedenkorte für die Männer, Frauen und Kinder, die sich hinter den gesichtslosen Zahlen der Massenvernichtung durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten verbergen. „Hier ist der Ort, wo Eure Vorfahren mich abholten“, mahnen die Steine den Betrachter, trotzdem blieben die Schicksale dahinter bisher konturlos.

Für mehr als die reinen biografischen Daten sowie Ort und Zeitpunkt der Ermordungen boten die kleinen Messingoberflächen einfach nicht genügend Platz. Nun hilft eine iPhone-Applikation diesen Schicksalen eben genau das Leben einzuhauchen, aus dem Nazi-Schergen die Betroffenen vor mehr als sechzig Jahren rissen – doch ist das schon genug? (…)

In Zusammenarbeit der ->Landeszentrale für politische Bildung mit den ->“Geschichtswerkstätten Hamburg e.V.“ wurden in die Datenbank der ->iPhone-App die ->3.200 in Hamburg verzeichneten Stolpersteine eingetragen, um sie mit einem Routenplaner zu verbinden. Damit sollen Wanderungen entlang der Wegmarken vereinfacht werden. Umfangreiche Suchfunktionen erleichtern es auch, Stolpersteine an bestimmten Orten oder von bestimmten Opfern.

Darüber hinaus jedoch – und darin liegt das eigentlich Zukunftsträchtige – greift die Anwendung auf Biografien zu, die zu den Steinen auf das iPhone abgerufen werden können. Endlich aber bleiben die Schicksale nicht hinter kalten Gravuren in Messing zurück, mit dem iPhone zusammen wird – auch wenn der Ausdruck überstrapaziert ist – Geschichte lebendig gemacht.

Für die Datenabfrage muss jedoch eine Internetverbindung bestehen, und bislang gibt es beileibe noch nicht zu jeder Person Hintergrundinformationen. Die Datenbank sollte für den gehobenen Anspruch einer Bildungsapplikation in jedem Fall umfangreicher werden. Außerdem ist prinzipiell bedenklich, dass diese Anwendung an das iPhone gebunden ist, und damit Nutzern anderer Handys nicht zur Verfügung steht. Gerade für ein Bildungsprojekt ist diese Isolation auf eine Plattform kontraproduktiv –  mangels der Verbreitung technischer Alternativen zum iPhone ist dieser Umstand jedoch vorerst nicht abwendbar.

Noch ein weiterer Wermutstropfen bleibt bei der lobenswerten Innovation des Geschichts-Informationssystems: Wieder handelt es sich um eine rein auf schriftlichem Text basierende, historische Vermittlung – auch wenn die Nutzung nicht zu Hause am Rechner erfolgt und auf die Positionen der Stolpersteine reagiert,  ein eher innovationsarmer Ansatz. Hier ist gerade bezüglich des Begriffs der Augmented Reality noch eine Menge zu lernen. Ein Projekt wie das der Stolpersteine fordert geradezu dazu auf, den Interessenten ein neuartiges, umfassenderes Erlebnis anzubieten, um die vergangenen Zeiten nachzuempfinden.

Der Begriff der Augmented Reality beschreibt ein Phänomen, das im Zeitalter immer mobilerer, mit Kameras, Bildschirm sowie Internetanbindung ausgestatteter Geräte (Smartphones, mobile Tablet-PCs) ermöglicht, die mit der Kamera erfasste Umwelt eines Nutzers mit Zusatzinformationen anzureichern. Diese werden dabei zunehmend direkt in der aufgenommenen Welt eingeblendet, so dass beim Blick auf den Bildschirm je nach Qualität und Aufwand die Einblendung als Teil der Wirklichkeit erscheint – eine verbesserte Realität. Im Grunde handelt es sich dabei um einen technologischen Bruch, der die Schranke zwischen Realität und Hintergrundinformationen einreißt. Mittlerweile werden touristische Informationen derartig aufbereitet, wie z.B. im Handy-Browser ->Layar, Spieler jagen in Großstädten nach virtuell deponierten Schätzen oder liefern sich Luftkämpfe mit Drohnen. (->NEWS: Verbesserte Realität, ->INNOVATION: Call in the Chopper, )


Die Gelben Seiten beim Stadtrundgang live abrufen.

Möglich wäre noch weitaus mehr als diese Beispiele. Testweise hat es bereits den Betrieb virtueller Stadtrundgänge gegeben, die sich auch an nichtlinearen Erzählungen versucht haben. Im Projekt GEIST unter Federführung des Fraunhofer-Institutes für Graphische Datenverarbeitung testeten man schon vor längerer Zeit verschiedene Ideen für die historische Wissensvermittlung. (siehe Bericht im ->Informationsdienst Wissenschaft von 2001). Hierfür wurden beispielsweise für Heidelberg die virtuellen Geister zweier Kinder eingesetzt,  um eine große historische Feuersbrunst zu vermitteln. Teilnehmer des Stadtrundgangs rekonstruierten an verschiedenen Orten der Stadt die damaligen Ereignisse, um die unruhigen Geister von ihren Schuldgefühlen am Brand zu befreien.

Eine ähnliche Darstellung wäre auch für die Stolpersteine wünschenswert – nicht nur, weil spielerisches Lernen wesentlich nachhaltiger ist und auch Gruppen fasziniert, die oft nicht mit reinen Sachinformationen motiviert werden können wie Schüler. Die Verknüpfung vieler Medien mit der wahrgenommenen Realität direkt auf dem Bildschirm vor Ort würde dem Nutzer ein wesentlich umfassenderes Bild über die Zeiten und die Menschen vermitteln, als es reine Texte jemals könnten. Bilder der alten Häuser, aus den Blickwinkeln der zeitgenössischen Aufnahme über die Realität gelegt, Tonaufnahmen der Dreißiger Jahre, bedrückende Nazi-Symbolik auf öffentlichen Plätzen – erst alle diese Elemente böten zusammen mit den Inhalten der biografischen Datenbank ein stimmigeres Gesamtbild.

Trotz des sensiblen und ernsten Themas sollte man sich auch Gedanken über spielerische Stadtbegehungen entlang der Stolpersteine machen. Die meisten Menschen behalten Inhalte, die sie spielerisch vermittelt bekommen, immer noch am Besten. Gerade jüngere Gruppen könnten so für die Stadtrundgänge gewonnen werden. Spieler könnten zum Auftrag bekommen, bestimmte Informationen über Personen oder Personengruppen herauszufinden. Sie könnten die Frage zu beantworten haben, welche zeitliche Entwicklung der Deportationen es gab. Zur Seite stehen könnte ihnen ein virtueller zeitgenössischer Begleiter.

Bei dem umfassenden Ansatz der Augmented Reality geht es also nicht um eine trendige Effekthascherei sondern um tatsächliche Mehrwerte der Geschichtsvermittlung. Damit würden die Stolpersteine von kalten Metallplatten mit groben biografischen Daten zu Wissensankern, mit deren Hilfe die virtuellen Informationen des Datenkosmos in die greifbare Welt hineinragen. Zudem wären sie spielerisch zu einem größeren Ganzen verknüpft – so sieht die Zukunft historischer Stadtrundgänge aus. Darüber müsste dann wohl sicherlich jeder stolpern.

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