DGBL: „Schatz, wir müssen reden!“ (Teil 2)

Zehn Thesen zum GeschichtsTalk am 8. März – wie sich der geschichtswissenschaftliche Umgang mit digitalen Spielen ändern muss

Seit dem letzten Jahr verfolge ich interessiert die Aktivitäten der Web-Talkshow ->Geschichtstalk im Super 7000. Im Düsseldorfer Veranstaltungszentrum ->Super 7000 diskutieren Historikerinnen und Historiker ein Mal im Monat je ein gesellschaftlich virulentes Thema, für das Geschichte eine zentrale Rolle einnimmt. Am 8. März wird sich die Runde unter dem Titel ->History Making on Playstation? – Realität nachgespielt mit digitalen Spielen befassen. Als Mitbegründer des ->Arbeitskreises für Geschichtswissenschaft und digitale Spiele (AKGWDS) habe ich mich mit meinen dortigen Kolleginnen und Kollegen natürlich gern an dem Sendungsformat beteiligt. Beim Portal ->L.I.S.A. der Gerda Henkel-Stiftung stellen wir uns und unsere ->unterschiedlichen Perspektiven auf digitale Spiele in Interviews vor. Ich versprach zudem, einen längeren Beitrag als Diskussionsgrundlage für die Gesprächsrunde zu veröffentlichen.

Was geschichtswissenschaftlich bislang fehlte, ist eine Orientierung der Debatte um digitale Spiele. Nötig ist ein wissenschaftspolitisches Programm, das verdeutlicht, wohin sich die Geschichtswissenschaft entwickeln müsste, um digitale Spiele adäquat als Gegenstand begreifen zu können. Im Folgenden konzentriere ich mich daher auf die zweite Hälfte der 10 Thesen dazu, was digitale Spiele im Hinblick auf Geschichte so besonders macht und welche Lösungswege dafür gegangen werden müssten. Die ->erste Hälfte dieses Textes verbreiterte die Blickwinkel in Bezug auf die Vielfalt des Gegenstands, Geschichtsbilder und zeithistorische Rückkopplungen, makro- und mikrohistorische Systeme, Performativität und Erinnerungskulturen. Jetzt systematisiere ich die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit, weise auf Strukturen von Branche und Spielerschaften hin und erläutere, warum geschichtswissenschaftlich bislang noch keine adäquate Geschichte digitaler Spiele existiert. Ebenso sind geeignete Wege ihrer Bewahrung zu diskutieren. Mit der Medialität digitaler Spiele schließt an diese historiografischen Überlegungen das Kernproblem für den geschichtswissenschaftlichen Umgang an. So lassen sich am Ende Konsequenzen für die Ausbildung des Nachwuchses ziehen – sowohl in der Akademie sowie der Branche.

Die Thesen sind sicherlich nicht erschöpfend, also ergänzen Sie gerne, was ihnen in diesem Text fehlt. Nutzen Sie gern dafür den Kommentarbereich, aber auch das ->interaktive Angebot des Geschichtstalk rund um die Sendung am 8. März. Und nicht vergessen: Einschalten, und mitreden…


6. Anschluss an disziplinäre Zugriffe

7. Die Branche und Spielerschaften – global und regional

8. Technikkulturelle Historiographie und Erhalt der Quellen

9. Medialität und Methodik

10. Ausbildung – „sowohl als auch“ statt „entweder, oder“


6. Anschluss an disziplinäre Zugriffe

Die ersten fünf Thesen zeigten bereits relevante Arbeitsfelder für die Geschichtswissenschaft auf, welche die historischen Inhalte, Spielformen, die Nutzerinnen und Nutzer sowie die entstehenden Erinnerungskulturen fokussieren. Darüber hinaus aber bilden digitale Spiele nicht einen losgelösten Sonderfall in der wissenschaftlichen Landschaft, an dem sich ein paar Exzentriker austoben. Sie stehen als historische Gegenstände in einem Verhältnis zu vielen weiteren wissenschaftlichen Arbeitsfeldern. Anknüpfungspunkte lassen sich dafür nicht nur in geschichtswissenschaftlichen Teilgebieten finden, auch bieten enge Nachbardisziplinen sowie sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen neue Blickwinkel an. Seit Jahrzehnten steuert nun bereits ein sich stetig wandelnder Spielejournalismus ganz andere Perspektiven bei. Denen fügen Autorinnen und Autoren aus der Entwicklerbranche wiederum weitere spezielle Blickwinkel hinzu.

Ohne an dieser Stelle so erschöpfend digitale Spiele mit wissenschaftlichen Arbeitsfelder in Verbindung zu setzen, wie ich es in meiner Dissertation getan habe, lassen sich doch schon mit wenigen Beispielen sinnvolle Berührungspunkte zum Beispiel in der Geschichtswissenschaft aufzeigen. So fügt ihr Umgang mit historischen Inhalten der traditionellen Historik neue Facetten hinzu, indem sie beispielsweise mit der historischen Sinnbildung in Erzählnetzwerken aus narrativen Fragmenten umgehen lernen muss. Das Feld der Public History reflektiert die Inhalte, technische Möglichkeiten und Arbeitsweisen der Branche im Kontext einer Geschichtskultur und setzt sie in ein Verhältnis zu anderen medialen und künstlerischen Darstellungformen von Geschichte. Die Grenzen übergreifenden Spielkulturen und Produktionsverhältnisse rufen geradezu danach, sich ihrem geschichtlichen Wandel mit globalhistorischen Ansätzen zu nähern. Auf den handlungsorientierten Blickwinkel der Performativität wurde bereits bezüglich der Macht der Spielenden hingewiesen. Um die bildmächtigen Eindrücke in historischer Hinsicht zu begreifen, unterstützt das Teilfeld der Visual History. Zu verstehen, was historische Klangwelten ausmacht, haben sich die geschichtswissenschaftlichen Sound Studies vorgenommen. Zuschreibungen von Emotionen ändern sich im gesellschaftlichen Kontext, weshalb Emotionsgeschichte versucht, ihre Bedeutung über die Zeiten zu erfassen. Da digitale Spiele häufig versuchen, Stimmungen bei ihren Nutzerinnen und Nutzern hervorzurufen, wäre zu studieren, in welchem Verhältnis diese zu historisch überlieferten Empfindungen stehen. Mit diesen Beispielen sind die Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft. Es würde sich also lohnen, nach Anknüpfungspunkten zu vorhandenen geschichtswissenschaftlichen Arbeitsfeldern auszuschauen.

Auch enge Nachbardisziplinen steuern bedenkenswerte Impulse bei. Museumsdidaktik, Bibliotheks- und Archivwissenschaften warnen vor erheblichen Schwierigkeiten, das Kulturgut digitaler Spiele zu bewahren und der Nachwelt zu präsentieren. Unbeeindruckt davon: die Geschichtswissenschaft. Vertreterinnen und Vertreter der Archäologie forschen seit Kurzem unter der Bezeichnung Archaeogaming an digitalen Spielen, indem sie ihre Expertise bei der Erkundung historischer Örtlichkeiten auf virtuelle Räume übertragen. Andererseits begeben sich Medienarchäologen auf die Suche nach Relikten vergessener, verschollener oder nicht mehr lesbarer Spiele. Um vor- und frühgeschichtliche Inszenierungen in digitalen Spielen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu betrachten, wäre eine Zusammenarbeit wichtig. Die Geschichtsdidaktik hilft weit über schulische Kontexte hinaus, den Transfer von historischem Wissen in Einzel- und Gruppenkontexten zu verstehen und ihn effizient zu gestalten. Insbesondere ist sie auf dem Weg zu einer besseren Methodik unerlässlich, um Rezipientinnen und Rezipienten dieses Mediums zu durchleuchten.

Im weiten Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften lassen sich zahlreiche hilfreiche Anregungen identifizieren, die für geschichtswissenschaftliche Ansätze gewinnbringend sind. Zum Verständnis des Gegenstandes benötigen Historikerinnen und Historiker die Game Studies, deren Disziplingeschichte andererseits im Zuge einer Historiografie der Branche und der Geschichte digitaler Spiele von Interesse ist. Medien- und Kommunikationsforschung verbindet den speziellen Gegenstand mit allgemeineren Untersuchungen zu Interaktion und Austausch und zieht Vergleiche zudem zu diversen anderen Medienformaten. Da digitale Spiele immer mehrere Informationskanäle gleichzeitig nutzen, ist bei Medienwissenschaften auch die Literaturwissenschaft einzuflechten, zum Beispiel im Hinblick auf die Narratologie. Dank ihrer Verflechtungen mit Theorien der Geschichtsschreibung schließt sie wiederum an die Historik an. In Medienpsychologie und -pädagogik arbeiten sich viele Forschende an Fragen der individuellen Gewaltwirkung ab. Ihre Methodik jedoch ist ebenso eine wichtige Stütze, um das Verhalten von Nutzerinnen und Nutzern in historischen Inszenierungen zu ergründen. Insbesondere kollektive Effekte, wie sie zu entschlüsseln beispielsweise im Hinblick auf Erinnerungskulturen bedeutend wären, ließen sich in andere historische Lernkontexte zurück übertragen. Mithilfe der Soziologie ließen sich die individuelle und kollektive Prozesse in und um digitale Spiele in größere gesellschaftliche Maßstäbe einbetten. So verändert sich etwa das gesellschaftliche Verständnis über den Sport unter dem Einfluss von esports. Recht, Religion und Kultur sind als normative Regelsysteme ebenfalls Teil von digitalen Spielen und ihrem Umfeld. Geschichtswissenschaftlich gesehen, wirken sich zum Beispiel unterschiedliche Rechtsgrundsätze inhaltlich aus, je nachdem wo der Betreiber eines Online-Spieles ansässig ist. Nicht nur für Identitätskonflikte nationaler Geschichtstraditionen, sondern auch im Falle von verfassungsfeindlichen Inhalten kann die juristische Lage sehr komplex werden. Die Theologie beobachtet schon länger, dass Menschen Rituale wie Hochzeiten oder das Totengedenken auch in digitalen Sphären vollziehen, so zum Beispiel in den sozialen Räumen von Online-Rollenspielen. Aus den Kulturwissenschaften gibt es über Gewohnheitsnormen hinaus Ansätze, die kulturelle Transformation der Spielenden beim Akt des Spielens zu erfassen. Wertvolle Überlegungen zu Atmosphären aus der Neuen Ästhetik ließen sich für historische Inszenierungen adaptieren. Die Liste sprengt bereits wieder den Rahmen eines Blogbeitrages und geht noch nicht einmal so weit wie die Analyse in meiner Dissertation. Diese Beispiele zeigen jedoch essentielle Felder, die aufzugreifen substantielle Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft verspricht.

Unberücksichtigt sind überdies bislang die vielen journalistischen Beiträge aus einem Zeitraum von Jahrzehnten. Sie bieten auf Webseiten, in gedruckten Magazinen oder zunehmend in Form von Videos Informationen zu einzelnen digitalen Spielen oder Serien. Erfahrene Vertreterinnen und Vertreter, die über lange Phasen die Branche und ihre Produkte beobachten, ordnen allerdings digitale Spiele, technische oder kulturelle Phänomene auch in lange historische Bögen ein. Sie zeichnen Traditionen von Spielformen wie etwa Strategiespielen, diskutieren Unternehmensgeschichten und versuchen sich der langfristigen Bedeutung von Leitfiguren der Spieleentwicklung zu nähern. Häufig verfahren sie aber aus einer persönlichen Perspektive, gewonnen primär aus ihren eigenen Erfahrungen. Sich selbst reflektieren sie dabei nicht genügend. Viel Beiträge kreisen um die Spielekultur selbst – in einer Nabelschau. So detailreich die Beiträge sind, vermögen sie keine zeitgemäße, fachliche Geschichtsschreibung über digitale Spiele zu ersetzen. Sie fragen schlicht nicht nach der Bedeutung chronologischer Abfolgen für Prozesse in den Subkulturen der jeweilige historischen Horizonte. Biografische Bücher, Unternehmensgeschichten oder die Einordnung von einschlägigen Spielephänomenen schreiben ebenso meist Journalisten. Als Gradmesser für eine besondere Qualität missverstehen viele die Menge an interviewten Personen. Leider legen sie zudem ihre eigene Intention für diese Bücher häufig nicht offen. Manche Titel geraten geradezu hagiografisch und so gut wie nie werden die Quellenbelege nachvollziehbar. Ähnlich vorsichtig müssen die Bücher behandelt werden, die von Branchenvertretern selbst verfasst werden, zum Beispiel auch als Lehrbücher für Game Design. Persönliche Erfahrungen sind selten ausreichende Belege, um Aussagen zu verallgemeinern. So wäre etwa zu hinterfragen, ob Online-Rollenspiele etwa wirklich nur vier Spielertypen kennen. Ihre Festschreibung von Richard Bartle in einem wichtigen ->Lehrbuch zu Virtuellen Welten könnte schlicht zu ihrer stetigen Reproduktion in jüngeren Titeln geführt haben. Geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen genügen diese Texte also weder in der Form noch im Inhalt. Dennoch leisten ihre Autoren wichtige Grundlagenarbeit. Durch die Untätigkeit der Geschichtswissenschaft versterben mittlerweile erste Gesprächspartner, die beispielsweise in den sechziger Jahren wichtige Entwicklungen anstießen. Auch an dieser Stelle sind Historikerinnen und Historiker aufgefordert, die existierende Literatur zu flankieren, indem sie systematisch die Zeitzeugen durch eine geschichtswissenschaftlich reflektierte Oral History erschließen.

7. Die Branche und die Spielerschaften – global und regional

In der jüngeren Vergangenheit erhielten globalgeschichtliche Ansätze immer mehr Bedeutung in der Geschichtswissenschaft. Sie lösen den Blick von nationalstaatlich zentrierten Erklärungsmustern für geschichtliche Zusammenhänge. Dafür wenden sie ihn hin zu grenzübergreifenden, transnationalen Verbindungen und Beziehungen unter Menschen, Gruppen und Kulturen. So schälen sich neue Räume und Verbindungslinien im kulturellen Austausch eines schon immer vielfältig verflochtenen Globus heraus. Um gewachsene Strukturen zu berücksichtigen, bleiben nationalstaatliche Herangehensweisen ja weiterhin nützlich, wie beispielsweise, um staatliche Rahmenbedingungen für digitale Spiele zu historisieren. Globalgeschichtliche Perspektiven aber flankieren diese Herangehensweisen, indem sie Prozesse und Gemeinschaften betrachten, welche Grenzen übergreifen. Gerade für einen Gegenstand wie digitale Spiele und ihrer Spielkultur ist diese Sicht also hilfreich. Sie lassen sich auf diese Weise als wesentliche Quellen einer Kulturgeschichte digitaler Mediengesellschaften begreifen, wie es Gernot Hausar formulierte.

Schon bezüglich der Strukturen von Entwicklern und Publishern gäbe es aus einer solchen Sicht interessante Phänomene zu untersuchen. Heute häufig übersehen, blühte auch in Deutschland noch in den achtziger Jahren eine Entwickler- und Publisherkultur. Ihre Bedeutung schwand jedoch unter Anderem aufgrund einer intelligenten Steuerpolitik in Frankreich und später Kanada. Mitverantwortlich war aber möglicherweise auch das hierzulande eher reservierte bis alarmistische Kulturklima – wer produziert in einem solchen Umfeld schon gern. Auf diese globalen Zusammenhänge kann man als Historiker durchaus mal verweisen, wenn gegenwärtig ->beklagt wird, dass Deutschland zwar einer der wichtigsten Absatzmärkte für digitale Spiele sei, nur ein Bruchteil aber hier produziert werden (gameswirtschaft.de, 21.9.2017). Der globale Blick auf digitale Spiele empfiehlt sich somit darauf, wie sich Technologien, Distributionssysteme und Spieleplattformen geschichtlich im wechselwirkenden Austausch zwischen Weltregionen veränderten. Damit zusammenhängend setzen sich Produktionsprozesse und Unternehmen außergewöhnlich international zusammen und reagieren transnational sehr flexibel.

Im Umkehrschluss lassen die globalen Verhältnisse auch regionale Gemeinsamkeiten klarer erkennen. Wegen der Steuerungsprobleme mit Controllern sind Strategiespiele auf den Konsolensystemen erheblich unterrepräsentiert. Im deutschsprachigen Raum sind PCs weiter verbreitet, so dass Spielende entsprechend mehr Strategietitel kaufen. Die Literatur spricht deutschen Spielenden eine stärkere Neigung zu dieser Spielform zu. Es lohnt sich aber, viel genauer hinzusehen. Denn im angelsächsischen Raum haben sich schlicht die Spielkonsolen stärker durchgesetzt, weswegen Spielende dort nur weniger Strategie-affin erscheinen. Nick Yee kritisiert in seinem Buch ->Das Proteus Paradox, dass globale Perspektiven zum Beispiel auf die Spielenden nicht genügend nach ihren regionalen Besonderheiten differenziert werden. Mehr als eine Dekade untersucht er Spielende bereits soziologisch, psychologisch und demografisch. Bei weltweiten Aussagen zu ihnen vernachlässige die Forschung häufig, dass sich zum Beispiel die Spielerschaften in China demografisch, vom sozialen Status her oder unter Gender-Aspekten gänzlich anders als in Europa zusammensetzen. Die Geschichtswissenschaft könnte hierbei nicht nur helfen, über den Austausch zwischen den differenzierten Gruppen von Spielenden zu historischen Vorstellungen zu reflektieren. Vor allem der Wandel, wie sich die Spielerschaften in verschiedenen Zeiträumen und Weltregionen zusammensetzten, ließe sich mit ihrer Hilfe historisch kontextualisieren.

Globale wie regionale Verhältnisse machen auch vor den Inhalten der Spiele nicht halt. So untersucht beispielsweise ->Souvik Mukherjee in dem Artikel ->Playing Subaltern (Games and Culture, 9. 2. 2016), wie die große Zahl indischer Spieler meist westlich produzierte, digitale Spiele wahrnimmt, in denen sie sich quasi selbst kolonisieren. Seine Beispiele sind die Strategiespiele ->Empire: Total War und ->East India Company. Zugleich entdecken gerade indische Independent-Studios das dortige kulturelle Erbe, um es in digitalen Spielen aufzubereiten (->Zeiler, Xenia: The Indian Indie Game Development Scene, in: gamevironments 5/2016 (PDF)). Bereits heute versuchen manche Spieleentwickler, den unterschiedlichen historischen Voraussetzungen verschiedener Weltregionen Rechnung zu tragen. ->In einem Blogartikel beschrieb ich etwa, wie ->Europa Universalis IV. Conquest of Paradise sich bemüht, die indigenen Völker Amerikas mit eigenständigen Spielmechaniken auszustatten. Aufgrund spezifischer Strukturen und Handlungsoptionen ihrer Herrschaftsformen stellt das Globalstrategiespiel sie nicht als nationalstaatliche Gebilde analog der europäischen Frühen Neuzeit dar. Wenn auch der Anspruch letztlich nicht ganz eingelöst wird, zeigt dieses Beispiel, dass Entwicklerinnen und Entwickler durchaus sensibler für ein Thema wie den Kolonialismus werden. Ob allerdings das Aufbaustrategiespiel der deutschen Traditionsreihe ->Anno 1800 einem solchen Anspruch zu genügen wird, ist zur Zeit schwierig abschätzbar. Die Entwickler inszenieren darin den imperialen Seehandel des 19. Jahrhunderts, so dass sich Siedlungen zum Beispiel durch einen ansehnlichen Zoo exotischer Tiere aufwerten lassen. Bislang allerdings adressiert ihre Kampagne koloniale und imperiale Themen noch nicht. Sie bei der geplanten Veröffentlichung zum Weihnachtsgeschäft 2018 einfach zu übergehen, wäre die denkbar schlechteste Lösung.

Sowohl auf spielerischer Ebene als auch im Hinblick auf die Spielenden, die Branchenstrukturen, Technologien und Kulturen ist ein differenzierter globalhistorischer Blick der Geschichtswissenschaft anzuraten. Die weltweiten Rahmenbedingungen eines jeweiligen Zeithorizontes zu verstehen, und ihre Auswirkungen auf historische Prozesse zu begreifen, wäre eine wichtige geschichtswissenschaftliche Aufgabe. Nur so ließen sich beispielsweise die vorhandenen Schwerpunkte historischer Inszenierungen im deutschsprachigen Raum und anderswo adäquat in ihre Zeithorizonte einordnen, die sich bei Hardware, Sozialstruktur der Spielenden, Spielformen und Inhalten etabliert haben. Hilfreiche Impulse durch die historische Perspektive wären daraus für andere sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen denkbar.

8. Technikkulturelle Historiographie und Erhalt der Quellen

Schon der vorherige Abschnitt ließ erkennen, dass die Branche, ihre Akteure und Technologien sowie die Spielformen und ihre Inhalte bislang viel zu wenig historisch reflektiert sind. Bisherige Veröffentlichungen zu geschichtlich bedeutenden Phänomenen bei Spielen, Reihen, Personen oder Unternehmen werden nicht daraufhin geschrieben, was sie für einen bestimmten Zeitraum und gesellschaftliche Subkulturen bedeutsam macht. In seinem Buch ->Game After forderte ->Raiford Guins daher, die vorwiegend technischen Chroniken und Hagiografien aus einer spielekulturell internen Nabelschau hin zu einer geschichtswissenschaftlich tauglichen, kritischen  Historiografie fortzuentwickeln. Eine solche Geschichte digitaler Spiele muss als technikkulturelle Geschichte geschrieben werden, wie sie ->Martina Häßler in einer Einführung skizziert. Im geschichtswissenschaftlichen Kern bedeutet die Technikkultur, dass technologische Entwicklungen aus den Bedürfnissen einer Gesellschaft erwachsen, zudem aber aus dem, was technisch umgesetzt wird, wieder neue Bedürfnisse einer Gesellschaft entstehen. Im Falle digitaler Spiele sind Produktions- und Distributionsprozesse, Spielweisen und Spielformen genau so wie die gesetzten inhaltlichen Themen ebenfalls Teil eines solchen zyklischen Prozesses. Insofern müssten zum Beispiel ->platform studies weniger eine technische Entwicklung nachzeichnen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive müssten sie die Frage beantworten, für welche Soziotope zu welchen Zeitpunkten welche Technologien historisch prägend waren – und was dies letzlich für die Gegenwart bedeutet.

Im Gegenteil aber wird historisch nachlässig zum Beispiel mit Genres verfahren. Nicht nur die Bezeichnungen von Spielformen wandeln sich im Laufe der Zeit, jedes einzelne Spiel weist besondere Ausprägungen und Besonderheiten auf. Im ->ersten Teil dieses Blogartikels wies ich unter dem ersten Abschnitt im Hinblick auf Vielfalt bereits darauf hin. Grundsätzliche Zuschnitte von Genres verändern sich also stetig. Sie sind daher weder über lange Zeiträume sinnvolle Kategorien, um historische Inszenierungen statistisch zu untersuchen, noch helfen sie bei einem Verständnis konkreter Spiele. Die mit den Kategorien verbundenen Vorstellungen verleiten Autorinnen und Autoren häufig zu Vorurteilen, denn sie formatieren Erwartungshaltungen gegenüber einem konkreten Studienobjekt. In meinem ->Blogeintrag zu Civilization VI erläuterte ich beispielsweise,  warum die Bezeichnung als „4X-Strategiespiel“ bei diesem Titel in die Irre führt. Die Reihe entwickelte sich in mehr als zwanzig Jahren erheblich weiter. Die dogmatische Bezeichnung 4X für eXplore, eXpand, eXploit und eXterminate impliziert eine bestimmte Spielweise, die schon lange nicht mehr zwingend notwendig ist. Je nach Spielweise eröffnen sich mittlerweile etwa Handlungsmöglichkeiten, die Spielziele auch ohne Expansion, Ausbeutung von Rohstoffen oder das Auslöschen von Gegnern zu erreichen. Zumal auch die Option besteht, die Zivilisationen schlicht endlos in Balance zu halten. Wer jetzt entgegnet, das sei nicht im Sinne des Spieles, vergisst, dass es in der Macht der Spielenden liegt, wie sie es spielen.

Es verändert sich jedoch nicht nur der Zuschnitt von Spielformen und was spielekulturell darunter verstanden wird. Sie entstehen und vergehen, werden später jedoch auch wiederentdeckt. So galten nach einem Boom am Beginn der neunziger Jahre Adventurespiele bald eine Dekade lang als unverkäuflich. Erst ab 2007  gelang es unter Anderen den Hamburger Entwicklern von ->Daedelic der totgeglaubten Spielform wieder Leben einzuhauchen. Auch Spielinhalte unterliegen solchen Konjunkturen, wie etwa die Weltraumsimulationen, die Anfang der 2000er Jahre rar wurden. Beflügelt von den enormen Investitionssummen, die in Chris Roberts ->Star Citizen fließen, erfahren diese Spiele gegenwärtig eine Renaissance. Oft liegt ein Aussterben nicht einmal daran, dass Spielende sich diese Titel nicht wünschen würden. Als enorm konservative Gatekeeper für Investitionen erklärten Publisher in der Vergangenheit häufig Spielformen für gescheitert, weil sie im hart umkämpften Markt nur produzieren, was einmal erfolgreich war. Plattformen für Crowd-Funding wie ->Kickstarter oder ->IndieGogo durchbrachen jedoch die Macht der Verlage. Sie ermöglichen Entwicklern, Kapital direkt von Fans und Investoren einzusammeln, so dass Crowd-Funding eine historisch relevante Veränderung der Spielekultur darstellt. Entsprechend haben auch die Generationen von Hardware nicht nur eine Lebensdauer und einen Lebenszyklus am Markt. Die jeweiligen Anteile dieser verschiedenen Plattformen, die notwendig sind, um die historischen Inszenierungen der Spiele überhaupt ausführen zu können, verschieben sich unablässig untereinander. So sind etwa die neunziger Jahre stark von PCs dominiert, während in der Dekade danach die Konsolen den Ton angaben. Die Independent-Welle seit dem Ende jener Dekade wiederum stablisierte die Bedeutung der PCs.

Geschichtswissenschaftlich brauchbare Erkenntnisse zu gewinnen, erfordert also, die historischen Verhältnisse von Entwicklungsphasen digitaler Spiele und ihrer Kultur gut zu kennen. Insbesondere gilt diese Grundlage für statistische Aussagen über die Verbreitung historischer Inszenierungen in digitalen Spielen. Bei dem Nachweis allein, welche Anteile historische Inszenierungen auf welchen Plattformen haben und wie die dortigen Geschichtsbilder sich verteilen, kann die Geschichtswissenschaft jedoch jedoch nicht stehenbleiben. Ihre eigentliche, schwierige Herausforderung ist es vielmehr, von solchen Daten aus Verbindungen zu den gesellschaftlichen Gruppen zu ziehen. Zu untersuchen wäre, welche Personenkreise in unterschiedlichen historischen Phasen der Spielegeschichte welche Eindrücke Geschichte aus digitalen Spielen gewinnen konnten. Erst auf diese Weise ließe sich eine Relevanz digitaler Spiele in historischer Hinsicht herausarbeiten.

Unbeachtet von der Geschichtswissenschaft vollzieht sich aber leider ein massenhafter Verfall des Kulturgutes. Darauf weist etwa Andreas Lange, der Leiter des ->Berliner Computerspielmuseums, seit Jahren energisch hin. Zum Beispiel erläutert er im Artikel ->Pacman im Archiv (Zeithistorische Forschungen 2/2012) enorme technische und rechtliche Schwierigkeiten bei der Bewahrung von originalen Geräten und Software. Chemische Zersetzung, Demagnetisierung oder mechanische Defekte sind nur einige Beispiele dafür, wie dringend eine konzertierte Aktion wäre, um diese Quellen zu erhalten. Letztere zum Beispiel durch Emulation auf anderen Plattformen oder im Internet spielbar zu halten, verstößt zudem gegen Lizenz-, Nutzungs- und Urheberrechte. Eine gesetzliche Regelung müsste hier Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke schaffen. Um die Tragweite des Verfalls zu erklären, sei Folgendes deutlich gemacht: Wenn Abspielgeräte zerstört, nicht mehr auffindbar und rekonstruierbar sind, verschwindet jede Ordnung auf dem Datenträger in einem Wust aus Nullen und Einsen. Ob dieses Gewirr aus Zahlenreihen ein Bild, Ton oder ein Spiel bildet, ist dann nicht mehr rekonstruierbar. Somit besteht dringender Handlungsbedarf, dass sich die Geschichtswissenschaft daran nicht nur konzeptionell beteiligt, sondern auch politischen Druck ausübt, die notwendigen Voraussetzungen für die Bewahrung zu schaffen. ->Gegenwärtig entsteht eines, wenn nicht das größte Archiv für digitaler Spiele auf der Welt in Deutschland. Um dieses aber sinnvoll zu strukturieren, ist ein archiv- und geschichtswissenschaftlicher Diskurs über Systematik und Methodik erforderlich. Ansonsten könnten  problematische Standards gesetzt werden, die später nicht korrigierbar wären. So müsste ein technikkultureller Diskurs zur Geschichte digitaler Spiele etwa ermitteln, welche Exemplare digitaler Spiele im archivischen Sinne kassiert werden können. Nicht jedes von ihnen wäre aus den bislang erläuterten, historischen Perspektiven heraus bewahrenswert. Regeln müssten also festlegen, welche gezielt bewahrt werden sollten, und welche eher nicht. Eine Archivierung digitaler Spiele, die am Ende nur eine Packung in ein Regal stellt, ist jedenfalls den Platz nicht wert, den sie verbraucht. Der Kern des Kulturgutes liegt in der Spielerfahrung, nicht in der physischen Verpackung.

Erkennbar gäbe es in Bezug auf die Geschichte digitaler Spiele also eine enorme Verkettung gewichtiger Fragen zu bearbeiten – allein die Geschichtswissenschaft fühlt sich nicht zuständig. Ihre lange Enthaltung hat einen Zustand mitzuverantworten, der eigentlich nur als Desaster bezeichnet werden kann. Wichtige Gesprächspartner versterben, technische Plattformen und digitale Spiele vergehen sang- und klanglos, Entwicklungsphasen der Spielegeschichte sind nicht identifiziert und untereinander in Beziehung gesetzt, die diversen Erinnerungen von Spielenden werden nur sporadisch aufgezeichnet. Manche Spiele können zwar emuliert werden, das heißt sie werden beispielsweise für den Betrieb im Browser aufgearbeitet. Die Probleme potenzieren sich aber ab  den neunziger Jahren als etwa ->DirectX als Programmbibliothek auftritt und mit verschiedenen Kopierschutz-Systemen experimentiert wurde. Für soziale Erfahrungen wie die Spielwelten von Online-Rollenspielen gibt es bislang überhaupt keine sinnvoll bespielbare Bewahrung, weil die Kommunikation und die Kollaboration innerhalb von Spielgemeinschaften nicht simulierbar sind. Unbeantwortet ist auch die Frage, wie man Spiele in geschlossenen Plattformen wie dem Apple Store bewahren soll oder in sozialen Netzwerken wie auf Facebook. Bleibt hier im Zweifel nur wie im Falle von Online-Rollenspielen übrig aufgezeichnete Spielerfahrungen zu archivieren? Bewahren wir stattdessen die Erinnerungen von Spielenden, die sie beispielsweise niederschreiben?

Es wird Zeit, dass die Geschichtswissenschaft zu den gesamten, hier aufgelisteten Problemen Antworten entwickelt. Ansonsten laufen immer mehr Jahrgänge digitaler Spiele gefahr, verloren zu gehen. Rasant verliert die Geschichtswissenschaft ihre Quellengrundlage und eine kontinuierliche Erforschung aller Entwicklungsphasen wird schwierig. Ohne ein besseres Verständnis, wie historische Inszenierungen in digitalen Spielen funktionieren, lässt sich nicht beantworten, welche Spiele aus historischer Perspektive bewahrenswerter sind als andere.  Diese zu identifizieren, wäre jedoch allein schon deswegen sinnvoll, weil Personal und finanzielle Mittel nur dann effizient einsetzbar wären. Auf einer solchen Basis ließe sich auch endlich gezielter eine technikkulturelle Historiografie betreiben.

9. Medialität und Methodik

Ein Grundproblem aber – das bereits mehrfach anklang, und im letzten Punkt Bedeutung auch für die Geschichte der digitalen Spiele offenbarte – ist das unzureichende Verständnis im geschichtwissenschaftlichen Diskurs, welche medialen Charakteristika digitaler Spiele beschreiben. Davon ist nicht nur abhängig, welche Aspekte auf der Suche nach Geschichtsbildern oder Modelle betrachtet werden müssen. Vielmehr bestimmt die Medialität auch, worauf im kulturellen Umfeld oder bei technischen Faktoren geachtet werden muss, um diese Aspekte plausibel zu werten. Auch wenn ein umfassender Diskurs dazu bislang ausblieb, existieren bereits Vorschläge in Veröffentlichungen, um sich dieser Medialität aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu nähern.

->Carl Heinze etwa betrachtete digitale Spiele von ihrem technischen System aus und verknüpfte die spielweltliche Erfahrung mit einem lebensweltlichen Bezugsrahmen.  ->Adam Chapman strukturierte in seiner Dissertation digitale Spiele mit historischen Inszenierungen eher phänomenologisch und mischte damit mediale Charakteristika und Beobachtungen an der Spielerfahrung. ->Martin Zusag (PDF) näherte sich in seiner Diplomarbeit einem produktiv-rezeptiven System. Und ->Vincenco Casso schloss zusammen mit Matthia Thibault (PDF) diverse Formen der Inszenierung an geschichtstheoretische Strömungen an. Meine Dissertation nähert sich dem historischen Angebot speziell bei Online-Spielen als Wissenssystem und verbindet es mit den Verhaltensformen der Spielenden und ihrer Erinnerungskultur. Ein Diskurs über den medialen Charakter digitaler Spiele im Allgemeinen und verschiedener Spielformen befindet sich also im Entstehen. Zusätzliche Impulse muss die Geschichtswissenschaft aus den weiter oben dargestellten interdisziplinären Feldern aufnehmen. Erst durch eine solche umfassende Diskussion können Historikerinnen und Historiker sich einem zufriedenstellenden Verständnis der Medialität digitaler Spiele im Hinblick auf historische Inszenierungen nähern.

Darüber hinaus birgt dieser Versuch eine Chance, das geschichtswissenschaftliche Bewusstsein auch für die grundlegenden Eigenschaften anderer Medienformate zu schärfen. Digitale Erzählnetzwerke im Internet, crossmediale Fernsehproduktionen, Comics, Podcasts und Vieles mehr ließen sich entsprechend reflektieren. Ja, und auch das Buch und der Fachartikel sind im Zuge dessen auf ihre Kerneigenschaften für historische Inszenierungen zu untersuchen. Sie sind als mediale Methode zentral mit dem geschichtswissenschaftlichen Diskurs verwoben und darüber hinaus elementar mit dem beruflichen Fortkommen in der Wissenschaft verknüpft. Denkbar wäre es doch aber, dass die Geschichtswissenschaft, die vor mehr als hundert Jahren in einem gewissen technologischen Umfeld textlich geprägt wurde, geeignetere Produktions- und Präsentationsformen in jüngeren Medien schlicht übersieht. Sehr wahrscheinlich ist dem so, weil sie diese nicht genügend versteht. Dieses Plädoyer für ein besseres Verständnis  bedeutet gewiss nicht, dass heutige geschichtswissenschaftliche Arbeiten zum Beispiel immer als digitales Spiel aufbereitet werden sollten. Umgekehrt aber könnte das Buch oder der Fachartikel nicht immer das richtige Mittel sein, um historische Inhalte für den fachlichen Diskurs aufzubereiten.

In einer enthierarchisierten, nicht überheblichen Betrachtungsweise verschiedener medialer Formen liegt also eine große Chance, geschichtswissenschaftliche Arbeitsweisen sinnvoll für das heutige mediale Spektrum zu öffnen. So gelänge es der Geschichtswissenschaft auch besser, jenseits des Buches Anschluss an nicht-akademische Medienproduktionen zu finden, die historische Inhalte verarbeiten. Digitale Spiele sind nicht der Feind der Geschichtswissenschaft. Sie nutzen zu einem großen Teil historische Themen und schaffen Interesse bei Personenkreisen, die über den Leserkreis von akademischen Publikationen weit hinaus gehen. Wie diese Blogbeiträge hoffentlich verdeutlichen konnten, sind weder die historischen Inhalte, die sie verwenden, noch die Formen, in denen sie inszenieren, trivial. Und selbst wenn man nun immer noch der Meinung wäre, sie seien oberflächlich – so müsste man die Notwendigkeit zugestehen, sich mit ihnen zu befassen, weil sie immerhin gut die Hälfte der Bevölkerung erreichen. Es ist jedoch schlicht blasiert, sich gegenüber einem Kulturgegenstand ablehnend zu verhalten, weil man ihn nicht versteht, weil man mit ihm selbst nicht sozialisiert wurde oder weil der Text schon immer traditionell das Zentrum der Geschichtswissenschaft darstellt. Gerade von Historikerinnen und Historikern darf man etwas mehr geistige Flexibilität und Reflexionsfähigkeit erwarten.

Um digitale Spiele fundiert zu durchleuchten, bedarf es einer Methodik, welche auf der Medialität des Gegenstandes beruht. So fällt es beispielsweise schwer, eine konkrete Spielsituation für einen textlichen Fachbeitrag zu zitieren. Die Spielerfahrung in einer Situation ist nicht nur erheblich von den Vorlieben und Spielweisen der Spielenden abhängig, sondern eben auch von dem Vorgehen der Forschenden. Es genügt also nicht wie etwa bei der Studie eines Filmes, einen bestimmten Timeframe anzugeben, damit Leserinnen und Leser eine Argumentation nachvollziehen können. Eine vollständige textliche Beschreibung der Situation wäre sehr umständlich und je nach Komplexität auch irreführend, weil der Versuch einer Beschreibung bereits Selektion und Deutung durch die Forschenden beinhaltet. Gleiches gilt für andere Vorschläge, ein stichpunktartiges Protokoll über Spielsitzungen zu führen. Die Spielerfahrung mitzuschneiden und als Video für einen Artikel zu belegen, erscheint als ein plausibler Ausweg. Aber auch hier ließe sich einwenden, dass nicht jeder Spieler oder jede Spielerin an demselben Ort im Spiel dieselbe Umgebung vorfindet, auf dieselben Dinge achtet, möglicherweise eine andere Tageszeit vorfindet oder anders ausgestattet ist als jemand Anderes.

Immerhin – mit dieser Methode ließe sich belegen, dass Forschende die im Text verwendeten Belege auch tatsächlich vorgefunden haben. Nicht belegbar ist dadurch, dass andere Spielende nicht auch andere Erfahrungen machen könnten. Dies hängt von der Komplexität der Spielwelt ab. Erste koordinierte Überlegungen zu einer geeigneten Methodik, mit historischen Inszenierungen digitaler Spiele umzugehen, trug der ->Arbeitskreis für Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS) in einem öffentlichen Diskussionsprozess zu einem ->Manifest zusammen. Diese Liste an Arbeitsempfehlungen ist nicht als abschließend misszuverstehen. Wir betrachten sie als Beginn eines umfassenden Diskurses, um digitale Spiele adäquat als geschichtswissenschaftlichen Gegenstand diskutieren zu können – gleichberechtigt neben anderen medialen Formen.

10. Ausbildung – „sowohl als auch“ statt „entweder, oder“

Die vorausgegangenen Erläuterungen führen letztlich zu der Konsequenz, dass die geschichtswissenschaftliche Ausbildung derzeit Absolventinnen und Absolventen völlig unzureichend auf ihr späteres Leben vorbereitet. Das mag einigen zwar weh tun, aber die Geschichtswissenschaft ist eben nur EIN Umgang mit der Geschichte. Dank wissenschaftlicher Standards wird er durchaus der sauberste und ausgewogendste sein, nicht notwendig aber der populärste. Die gesellschaftliche Reichweite geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse ist daher begrenzt. Keineswegs aber liegt diese Reichweite daran, dass Mitmenschen sich nicht für historische Inhalte interessieren würden. Insbesondere bei digitalen Spielen besteht sogar ein wachsendes Interesse.

Ein Jahrhundert lang kamen immer neue mediale Darstellungsformen hinzu, die Geschichte inszenierten. Ob nun Radio, TV oder Internet – gemessen wurden diese Technologien von der Geschichtswissenschaft stets daran, ob man mit ihnen in den gewohnten akademischen Formen Inhalte transportieren könnte, die man vom Text gewohnt ist. Den Medienformen näherten sich Historikerinnen und Historiker jedoch nicht, um ihre spezifischen Eigenarten zu verstehen, und sie, darauf basierend, in geeigneter Form für geschichtswissenschaftliche Zwecke zu nutzen. Die verschiedenen medialen Transportwege bedingen jedoch nicht nur, was an historischen Informationen darstellbar ist, sondern auch in welcher Weise. Um diese Kritik auf digitale Spiele zu übertragen, bedeutet dies Folgendes: Es genügt nicht, darüber nachzudenken, in welcher Kürze man einen historischen Text in einem Spiel unterbringen kann und wie nach historischen Bauskizzen ein Gebäude digital zu rekonstruieren ist. Vielmehr muss darüber nachgedacht werden, ob zum Beispiel der Inhalt des Textes nicht besser durch ein Rechenmodell oder spielmechanische Handlungsoptionen verkörpert wird.

Umso wichtiger ist es für Historikerinnen und Historiker zu verstehen, wie andere Mediensorten funktionieren, was ihre jeweiligen Eigenschaften mit Geschichte anstellen und welche Chancen sich dadurch bieten. Diese müssten gezielt genutzt werden. Darin liegt auch der Kern unserer Projektkurse in der ->Public History an der Universität Hamburg. Dafür haben wir Wege entwickelt, damit Studierende geschichtswissenschaftliches Denken in praktischen Medienfeldern anwenden und gleichzeitig die Anforderungen der jeweiligen Medienfelder an den geschichtswissenschaftlichen Notwendigkeiten reflektieren lernen. Als Gegenstände thematisiert wurden bei mir natürlich auch digitale Spiele, darüber hinaus allerdings Ausstellungen, Smartphone-Apps oder Video-Produktionen für Youtube. Andere Lehrende behandelten Theater, Denkmäler oder Gedenkstätten als historische Transportmedien.

Stets ging es uns darum, wie diese Medienformate genutzt werden können, um zeitgemäßen geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Und sieheda, befasst man sich erst einmal gezielt damit, lassen sich tatsächlich viele taugliche Anwendungsmöglichkeiten identifizieren. So entdeckten die Studierenden entlang konkreter Projekte selbst die Synergien zwischen einem etablierten Medienfeld und ihrem Studienfach. Unterstützt wurden die Kurse dabei durch externe Lehrbeauftragte, aus medialen Tätigkeitsfeldern wie dem Journalismus und der Games-Entwicklung,  aber auch durch Freie Historikerinnen und Historiker, Archivare. Dadurch verloren die Studierenden nicht nur Berührungsängste mit den Medienfeldern, sondern fanden auch Zugang bei aufgeschlossenen Medienvertretern. Im Zuge dieser Kurse entstehen selten fertige Produkte, im Prozess dieser Aushandlung jedoch entwickeln die Studierenden in der Regel funktionsfähige Prototypen, die einen erheblichen Reflexionsprozess  zwischen Wissenschaft und dem medialen Anwendungsfeld ausweisen. Zum Beispiel entanden ->mehrere gelungene Zehnminüter zu den historischen Inszenierungen ausgewählter digitaler Spielen, die später auch Teil einer ->Ausstellung auf dem Hamburger Play 17 Festival wurden. Dafür mussten die Kernaussagen der Videos nicht nur ansprechend auf Plakattafeln , sondern auch in pointierte Kurztexte übertragen werden.

Solche Bemühungen, Absolventinnen und Absolventen auf verschiedene Tätigkeitsfelder vorzubereiten, werden jedoch in der Regel in der Geschichtswissenschaft eher belächelt. In der Wahrnehmung ist eine solche Public History eine Kür, eine Bonus-Spielerei jenseits des Kerngeschäftes. Das aber ist ein kapitaler Denkfehler. Zum einen führt diese Haltung in der Ausbildung zu Historikerinnen und Historikern, denen die notwendigen Kenntnisse fehlen, um adäquat verschiedene mediale Repräsentationsformen rezensieren können. Daher geht auch so häufig die geschichtswissenschaftliche Kritik an dem Kern eines Medienproduktes vorbei. Zum Anderen setzt nach dem Abschluss je nach Statistik nur 5-10 Prozent der Absolventinnen und Absolventen in einer geschichtswissenschaftlichen Karriere fort. Natürlich muss sich die akademische Ausbildung auch an ihnen orientieren. Bis zu 95 Prozent der Studierenden entlassen die Studiengänge aber von den Universitäten, ohne dass sie geeignetes Handwerkszeug gelernt hätten, um in verschiedenen medialen Tätigkeitsfeldern bestehen zu können. Und das, obwohl der Bedarf an Historikerinnen und Historikern durch ein großes gesellschaftliches Interesse an diesen Medienformen so groß ist. Das ist doch ein völllig absurder Zustand, an dem sich jetzt schon Jahrzehnte kaum etwas ändert!

Um es auch noch einmal deutlich auszuschreiben: Es geht mir nicht darum, das Studium im Sinne von Employability umzubauen. Die Ausrichtung des wissenschaftlichen Betriebs an den wankelmütigen Interessen der Wirtschaft führt nur zu einem qualitativen Absturz der Ausbildung. Im Gegenteil sind Absolventinnen und Absolventen im Studium mit dem nötigen Wissen und Fertigkeiten auszustatten, um die bisherigen Arbeitprozesse und Inszenierungen verschiedener Branchen an geschichtswissenschaftlichen Anforderungen reflektieren zu können. Nur so können sie beispielsweise bei digitalen Spielen bedenkliche Entwicklungen und Darstellungsweisen aufgreifen, als Spezialisten mit dem Verständnis für mediale Tätigkeitsfelder ansprechen und innerhalb der Branchen von neuen Chancen und Ansätzen überzeugen. Bleibt alles, wie es bislang in der Ausbildung ist, so bleibt es auch bei dem oft unqualifizierten Genörgel von Historikerinnen und Historikern an Filmen, Museen, Denkmälern, Radiobeiträgen, Webseiten, Comics und digitalen Spielen, weil ihre Kritik am Kern der jeweiligen Medienfelder vorbei geht. Das gravierende Problem daran ist, dass sie deswegen in den Branchen ungehört verhallt und dadurch rein gar nichts verändert.

Die Geschichtswissenschaft benötigt also dringend eine Trendwende, um den Studierenden eine Ausbildung zu ermöglichen, die sowohl die akademische Karriere an der Universität, in Museen oder Archiven ermöglicht als auch anspruchsvolle Tätigkeiten in Medienfeldern. Schon jetzt entspricht genau dieses Profil an Arbeitsfeldern für Absolventinnen und Absolventen der Geschichtswissenschaft der beruflichen Realität. Mühsam jedoch müssen sie sich nach dem Abschluss ein Verständnis ihres Arbeitsfeldes anlernen. Besonders absurd: Da die Geschichtswissenschaft aus falsch verstandener Tradition eine so beschränkte Auffassung über sich selbst beibehält, gibt es kaum ein Zurück für Historikerinnen und Historiker, die einmal die Akademie verlassen haben. Dieser Mangel an Austausch zwischen Praxis und Theorie, zwischen Medienberufen und Geschichtswissenschaft potenziert den bisher geschilderten Mangel an Verständnis noch.

Die Ausbildung der Studierenden zu reformieren, ist aber nur ein erster Schritt. Wenn über Texte hinaus auch andere Medienprodukte in den geschichtswissenschaftlichen Fokus rücken, müssen auch die Lehrenden und insbesondere die Prüferinnen und Prüfer dem Anspruch gewachsen sein. So muss sich nicht nur das Studium verändern und die Einstellung der Studierenden zum Studium, sondern auch die Lehrenden und Forschenden an den Universitäten und Hochschulen. Es wird ein langer Weg sein, bis Doktoranden ein digitales Spiel als Dissertation einreichen. Aus den oben genannten Gründen muss er aber beschritten werden.  Der Umgang mit Textformen könnte weiterhin ein Teil auch eines Spieles und damit einer akademischen Prüfung bleiben. Zudem könnten die Prüflinge eine schriftliche Dokumentation von Quellen und Arbeitsweisen für ein solches Spiel einreichen. Es führt kein Weg daran vorbei, Studierenden so bald, wie möglich, diese Möglichkeiten zu geben, will man die Geschichtswissenschaft konsequent weiterentwickeln.


->DGBL: „Schatz, wir müssen reden!“ (Teil 1)


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