REZ: Aus Scherben einer Karaffe eine Vase bauen (Teil 1)

Carl Heinze entwickelt erstmals ein begründetes Modell, um historische Videospiele zu diskutieren – im Detail blendet er sich damit jedoch selbst


>>>Teil 1: Heinzes Modell…
>>>Teil 2: … und Heinzes Schlüsse
>>>Teil 3: Die Folgen von Heinzes Thesen und wie sie zu bewerten sind

Mit seiner Dissertation hat Carl Heinze ein Modell dafür vorgelegt, was historische Videospiele sind und wie sie aus Sicht der Fachwissenschaft zu diskutieren sind. Zunächst sollte zu seinem Buch nur eine kurze typische Besprechung entstehen. Wegen einiger Kritikpunkte an den Implikationen und Folgen seines Modelles als solches, musste jedoch auch seine Argumentation tiefer dargestellt werden. Daher lesen Sie in Teil 1 nun einen Überblick dazu.

Befasst man sich wissenschaftlich mit einem Thema, ist nichts unglücklicher, als wenn nach intensiven Vorarbeiten ein anderer zu demselben Thema veröffentlicht. So hielt sich meine Begeisterung darüber zunächst in Grenzen, als ich Anfang 2013 von Carl Heinzes Dissertation erfuhr, die sich mit dem Mittelalterbild in Computerspielen befasst (->Carl Heinze: Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel (=Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen, 8), Bielefeld 2012). Denn einen Vortrag zu eben diesem Thema, den ich im Sommer 2012 an der ->Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg hielt, arbeitete ich zu diesem Zeitpunkt für eine längere Serie in meinem Blog aus (siehe ->DGBL: Das Ende der Finsternis. Potenziale mittelalterlicher Inszenierungen in digitalen Spielen vom 23. Oktober 2012 und folgende). Allerdings: Dadurch ergeben sich zwar gewisse Überschneidungen der Beobachtungen und auch bei der Auswahl an betrachteten Spielen, unsere Analysen aber unterscheiden sich doch teils erheblich im Detail.

Abb.: Antworten aus Sicht der Geschichtswissenschaft? Die Dissertation von Heinze auf der Suche nach dem historischen Videospiel (Foto: eigenes)
Abb.: Antworten aus Sicht der Geschichtswissenschaft? Die Dissertation von Heinze auf der Suche nach dem historischen Videospiel (Foto: eigenes)

Nun befasst sich Carl Heinze auf der einen Seite mit ungefähr dem gleichen Leitthema. Andererseits zeichnete ich damals ein Bild verschiedener Gattungen von historischen Videospielen entlang ihrer Ahnenreihen, wohingegen er – weit über den Anspruch meiner Blogbeiträge hinaus – erstmals ein umfassendes Modell aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft entwirft, das Videospiele allgemein als Transporteure historischer Inszenierungen beschreibt. In seinem beim ->Transcript Verlag erschienenen Buch arbeitet er Phänomene heraus, die über seine Beispiele mittelalterlicher Inszenierungen hinausweisen. Dadurch besitzen seine Befunde nicht nur für die mittelalterliche Epoche Aussagekraft. Gleichzeitig schlägt er zum ersten Mal eine belastbare Definition vor, was denn ein historisches Computerspiel überhaupt sei.

Damit hat Heinze einen massiven Grundblock in das Fundament für die geschichtswissenschaftliche Bearbeitung von digitalen Spielen gesetzt. Gleichwohl bleibt es in seinem Werk nicht bloß bei einem „einzigen Wermutstropfen“, wie Philipp Schwarz in seiner Rezension für HSozKult schrieb. Er bedauere lediglich an Heinzes Werk, dass die explorativ und qualitativ hergeleiteten Thesen über Videospiele noch keine Rezipientenanalyse überprüfen könne (->Philipp Schwarz: Rezension zu: Heinze, Carl: Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel. Bielefeld 2012, in: H-Soz-u-Kult, 30.01.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-1-066>). Eine solche Analyse möchte zeigen, wie historische Spiele aus Sicht der Nutzer wahrgenommen werden.

Nicht darin aber liegt für mich ein spezielles Problem seiner Arbeit. Dies könnte man zurzeit noch jeder Veröffentlichung zu digitalen Spielen in der historischen Wissenschaft vorhalten. Studien zur Rezeption der historischen Inhalte von Videospielen sind noch unbeantwortete Desiderate der Forschung. Nein, mich überzeugt das vorgestellte Modell, um digitale Spiele zu analysieren, nicht vollständig. Aus diesem Modell aber leitet Heinze einige zentrale Beobachtungen ab. Diese von ihm selbst gebaute Brille filtert das Licht eben so, dass er seine Beispiele auf eine bestimmte Weise sieht. In Teilen folgen seine Eindrücke mehr aus den Grundannahmen seiner eigenen Modellentwicklung, denn aus den Videospielen…

Es ist ein Modell und es sieht gut aus…

Soweit ich die Literatur zu Videospielen und geschichtlicher Repräsentation überblicke – und ich nehme für mich in Anspruch, dass dieser Überblick recht gut ist – hat vor Heinze noch kein Historiker sein Analysemodell zu diesem Themenbereich so sorgfältig aufgebaut und ausführlich begründet. Ob man das Modell nun teilt oder nicht, leistet Heinze so einen wesentlichen Vorschub zur breiteren Diskussion theoretischer und methodischer Ansätze in dem jungen Feld, die längst dringend notwendig sind.

Es ist schon allein ein Verdienst, dass er sich dieses von der Geschichtswissenschaft immer noch so stiefmütterlich behandelten Bereiches mit großer Sorgfalt annimmt. Umso mehr ist ihm hoch anzurechnen, dass seine Sprache weitestgehend auch für Leser verständlich bleibt, die nicht selbst Videospieler sind. Schließlich ist es ein hochgradig interdisziplinäres Thema, das er sich vornimmt. Zunächst erarbeitet er ein theoretisches Modell, in dessen Aufbau er gute vierzig Prozent des Buches investiert. Letztlich aber muss es diesen Raum auch einnehmen, damit Heinze geeignete Beispiele für seine spätere Untersuchung begründen kann. Erst danach, die Vorüberlegungen zu einem Arbeitskonzept verknüpft, wendet er sich konkreten digitalen Spielen zu. Seine Vorarbeiten wendet er nicht nur auf diese Beispiele an, sondern greift dabei auch auf weitere Medienphänomene oder kulturelle Erscheinungen aus. Ihn interessiert, welche impliziten Voraussetzungen digitale Spiele bestimmen, um Historisches zu inszenieren, und welche Formen sie explizit wählen, wenn sie es denn bewusst tun.

So entwickelt er nicht nur gründlich und schrittweise sein Gesamtmodell aus Forschungsständen der Game Studies, Medienwissenschaften, Didaktik und der Geschichtswissenschaft, sondern erörtert auch Begriffe und Denkkonzepte, die gelegentlich schon durch andere Disziplinen vorgeprägt sind. Heinze verdeutlicht schon im Titel, dass es ihm neben der Untersuchung von historischen Darstellungen auch um die Analyse geht, wie Videospiele Geschichte zu modellieren versuchen. Diese Titelwahl macht deutlich, wie sehr für ihn Darstellung von Geschichte und Modellierung zwei einander beeinflussende, jedoch im Grunde getrennte Säulen der Gesamtinszenierung sind.

Dies zeigt sich auch an dem Denk- und Analysekonzept zu digitalen Spielen. Seine Denkweise über „Spiele als Interpretation formaler Systeme und als Modellierung kollektiver Wissensbestände“ (s. Bildunterschrift Abb. 4.6, S. 102) bildet sich heraus, indem er zunächst das Verhältnis von Historie und Geschichtskultur herausarbeitet und danach allgemeine Spieltheorie erläutert. Darauf aufbauend erläutert er, wie (auch analoge) Spiele kollektives Wissen einbeziehen und reflektieren. Hierzu gehören zum Beispiel auch Wissensbestände der historischen Erinnerungskultur. Sein Zugang zu digitalen Spielen wird aus diesen Vorüberlegungen zusammengeführt, indem er die innere Logik von Computersystemen aufzeigt und wie sie nach seiner Auffassung die Spielsysteme und die Verarbeitung historischen Wissens bedingen (s. im Kern S. 86-108).

Abb.: Am Ende seines Theorieteils steht Heinzes vollentwickeltes Modell und zeigt, wo das Historische überhaupt Eingang findet (Abb. 4.6 aus Heinze, S. 102)
Abb.: Am Ende seines Theorieteils steht Heinzes vollentwickeltes Modell und zeigt, wo das Historische überhaupt Eingang findet (Abb. 4.6 aus Heinze: Mittelalter Computer Spiele, S. 102)

Zum besseren Verständnis ist oben das voll entwickelte Konzept seiner Betrachtungsweise abgebildet (S. 102). Im spiellogischen Bezugsrahmen steht auf der linken Seite das formale System eines Computerprogramms mit seinen Algorithmen, seiner digitalen Natur und seinen programmierten Befehlen. Eine Interpretation dieses strukturellen Hintergrundes nimmt das Regelspiel (Mitte) vor, da es die technische Basis des formalen Systems auf die speziellen Anforderungen des Computerspiels formt. Dort enthalten sind beispielsweise die programmierten Spielregeln, die speziell einem Shooter oder einer Wirtschaftssimulation ihre Funktionsweisen verleihen, aber auch die Handlungsmöglichkeiten des Nutzers oder die visuelle Spielperspektive hinter dem Bildschirm festlegen. Dadurch aber referenzieren Spiele immer auf einen Pool von kollektivem Wissen, durch den der Nutzer weiß, was für Inhalte er in diesem Regelspiel überhaupt sieht. Das betrifft Konventionen über Spielregeln und Genres, grafische Darstellungen von Waffen, Personen oder Objekten, aber auch von Historischem Wissen. Das Regelspiel und das kollektive Wissen bilden den lebensweltlichen Bezugsrahmen des Spiels. Ein Computerspiel zu spielen sei daher eine Tätigkeit, „die zwischen einem traditionellen, alltäglichen und kollektiven und einem artifiziellen, abstrakten und formalen Bedeutungsgeflecht“ (S. 102) ständig hin und her schwankt. Das Spielen verortet Heinze „zwischen der formalen und der narrativen Ebene“ (S. 107).

Aufgrund dieser Vorüberlegungen schlägt Heinze vor, „von einem historischen Computerspiel dann zu sprechen, wenn eine funktional relevante Menge von Spielelementen ihre Bedeutung durch den historischen Diskurs erhält.“ (S. 107) Diesen Diskurs bestimmten zwar auch, jedoch nicht allein die Ergebnisse der Fachwissenschaft, vielmehr sei „historisches Wissen als gesellschaftlich ausgehandelte Größe anzunehmen“ (S. 90), wodurch auch nichtwissenschaftliche Vorstellungstraditionen vom Mittelalter eine erhebliche Rolle spielten. Formt man nun aus dem kollektiven Wissen ein Regelspiel, so entspricht dies einer Modellierung, um das Regelspiel aber wiederum einem Computer verständlich zu machen, erfolgt eine Abstraktion/Formalisierung auf die technische Apparatur.

Schließlich kombiniert er quantitativ und qualitativ eine Methodik, die – aus dieser Sicht – folgerichtig ist, um die gewählten Einzelfallbeispiele eingehend zu betrachten. Seine Analyse erfolgt von progressiven hin zu emergenten Spielkonzepten (siehe zu den Begriffen ->Jesper Juul: „The Open and the Closed: Game of emergence and games of progression“, in: Computer Games and Digital Cultures Conference Proceedings, edited by Frans Mäyrä, Tampere 2002, S. 323-329). Darüber hinaus wendet sie sich von populären hin zu mehr wissenschaftlichen Anleihen, von einfachen Konzepten hin zu komplexen, von einem narrativen zu einem stärker modellierten Geschichtstransport und von globaler und pauschaler Behandlung hin zu kleinteiliger, spezieller Betrachtung.

Die Nutzer und Produzenten von Videospielen bezieht er ein, soweit insbesondere Rezipienten überhaupt belegbar sind. Äußerungen von denjenigen, die an der Produktion beteiligt sind, nutzt er, um den Intentionen der Macher für ihre Videospiele auf die Fährte zu gelangen. Sein Hauptaugenmerk legt er konsequent auf den im deutschen Markt erfolgreichen und bei deutschen Kunden beliebten Spielen, da er so eine Verbindung zur Erinnerungskultur im deutschen Sprachraum herstellt. So erreicht er trotz weniger Beispiele in den folgenden Kapiteln eine wirklich überzeugende Querschnittstudie über alle gegenwärtigen Genres, die das Mittelalter aufgreifen.


Nachdem nun das Modell eingehend erläutert ist, wird Teil 2 nun die Argumentation von Heinzes Analyse entlang der Einzelbeispiel aufzeigen und Heinzes Fazit genauer darstellen.

>>>Teil 1: Heinzes Modell…
>>>Teil 2: … und Heinzes Schlüsse
>>>Teil 3: Die Folgen von Heinzes Thesen und wie sie zu bewerten sind

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