NEWS: Blinde Flecken

Durch das Horror-Adventure „Perception“ streift erstmals eine blinde Heldin, die ihre Umwelt auf besondere Weise wahrnimmt

Im alten Herrenhaus ist es bedenklich ruhig. Bis auf die knarzenden Holzdielen, gelegentliches Gluckern in alten Leitungsrohren und pfeifende Windritzen ist nichts zu hören. Eine Person, den Atemgeräuschen und ihren eigenen Äußerungen nach weiblich, schreitet zögerlich durch die Räumlichkeiten, ohne die Bewohner des Manors anzutreffen. Ihre Stimmung spannt sich zusehends an, denn deren Hinterlassenschaften zeigen sehr deutlich, dass hier etwas Unheimliches vorging.

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Der Ankündigungstrailer von Perception unterstreicht die faszinierende Stimmung und gibt einen Einblick in die Spielmechanik. (Perception – Announcement Trailer (Bioshock Devs) (Full HD) / Kanal Pixel Planet via Youtube)

So weit, so gähn – diese Zutaten sind für Horror-Survivals nun wirklich nicht ungewöhnlich . Dass sich für ->Perception ein paar erfahrene Entwickler von ->Irrational Games zusammen schlossen, lässt auch nicht übertünchen, dass sich mittlerweile gefühlt jedes zweite Games-Projekt in diesem Genre ansiedelt. Die ehemaligen Entwickler von legendären Titeln wie ->Bioshock: Infinite firmieren jetzt als ->The Deep End Games und nahmen gerade Ende Juni via Kickstarter erfolgreich knapp 170.000 Dollar für ihr Projekt ein (siehe ->Projektwebseite @ Kickstarter.com). Dieser Erfolg gelang ihnen trotz der ausgetretenen Horror-Pfade, weil ihre Hauptfigur blind ist und so die Spielwelt auf eine ganz besondere Weise wahrnimmt.

Mit einem Stock schlagen die Spielenden auf den Boden der Spielwelt. Der Schlag dringt, als Schallwellen visualisiert, in die Umgebung und macht für wenige Momente die Objekte darin sichtbar. Tatsächlich können sich blinde Menschen mit etwas Training auf diese Art orientieren. Zum Beispiel wirbt Daniel Kish für die Methode, der „Human Echolocation“ auf der TEDxGateway 2012 unter dem Titel ->Teaching The Blind To Navigate The World Using Tongue Clicks vorstellte (Für Eilige besonders ab 9:55 interessant). Diese Orientierung durch Schall ist erstaunlich präzise. Das Spiel visualisiert die auf eine solche Weise entstehenden Klangräume verblüffend überzeugend und in Echtzeit. Auch die Geräusche der oben genannten Rohre, leicht offen stehender Fenster oder pfeifender Dampflecks helfen bei der Orientierung.

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Amanda und Bill Gardner, Gründer sowie Creative Director und Writer von Deep End Games, stellen sich und das Team vor, geben einen Einblick in ihre Vision zum Spiel Perception und werben um Unterstützung. (About The Deep End Games and Perception / Kanal Bill Gardener via Youtube)

Allerdings hat diese Form des indirekten Sehens auch einen entscheidenden Nachteil für ein Horror-Survival: sie ist laut. Die Protagonistin wird mit jedem Schlag von Wesen wahrgenommen, denen man lieber nicht auffallen möchte. So tritt sie in einen Wandschrank, hinter dem sich ein Friedhofshügel eröffnet. Dort scheint eine kauernde Gestalt vor einem Grabstein zu trauern. Plötzlich verfolgt sie eine albtraumhafte Gestalt und, um zu fliehen, müssen die Spielenden sich stetig neu entscheiden. Wollen sie sich lieber mit einem Stockschlag orientieren und ihren Aufenthaltsort verraten – oder verstecken sie sich heimlich.

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Im Gameplay-Trailer gibt es mehr von der Spielmechanik und den Elementen des Survival-Horror zu sehen. (Perception Gameplay Trailer / Kanal Bill Gardener via Youtube)

Mit ->Perception entsteht also ein Spiel, dass einem ziemlich breit getretenen Genre Neues abgewinnt, weil es die Form der Wahrnehmung verschiebt. Damit eröffnen sich gänzlich neue Möglichkeiten, um die Umwelt zu gestalten und spielmechanisch zu nutzen. Allerdings ist noch nicht absehbar, ob die eingeworbene Summe wirklich für eine runde Spielerfahrung in einem vollwertigen Spiel ausreichen wird. Für ein solches Projekt erscheint mir die Summe doch sehr gering, liegt sie doch eher auf dem Niveau größerer Mobile-Spiele als auf dem von Produktionen für Mac oder PC.

In jedem Fall gebührt dem Entwickler schon jetzt Bewunderung dafür, in dem Genre der Horror-Survival-Spiele noch einen blinden Fleck gefunden zu haben, der bislang von anderen Studios übersehen wurde. Richtig angepackt, könnte hier auch ein Spiel entstehen, das sehenden Menschen möglich macht, die Wahrnehmungswelt von blinden Menschen zu erfassen. Diesen Blinden Fleck zu schließen, könnte sich als noch viel bewundernswerter erweisen. Jetzt muss nur noch jemand kommen, der umgekehrt auch blinden Menschen eine solche Spielerfahrung ermöglicht.

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INNOVATION: Nimm es ruhig persönlich

In „This War Of Mine“ taumeln Zivilisten durch die Grauen des Krieges

(PC (getestet) | OS X | Linux | Android | iOS )

Was bis vor Kurzem so als Kriegspiele bezeichnet wurde, sind eigentlich keine. Ob die Reihe nun ->Battlefield oder ->Call of Duty heißt, ihre Ableger inszenieren Gefechte in pittoresken, und doch sterilen Umgebungen, denen es völlig abgeht, die Folgen von bewaffneten Konflikten deutlich zu machen. Sie glorifizieren oft sehr stereotype Heldengestalten, sind voller Pathos, der als Tiefgründigkeit missverstanden wird, und ihre Schlachten werden in Gebieten ausgetragen, die menschenleer sind. Sind zwanzig Minuten verstrichen, lädt der Server das Spielfeld einfach neu. Eine Zauberhand renoviert die zerbombten Gebäude und räumt die rauchenden Trümmer beiseite.

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Das Multiplayer-Schwergewicht Battlefield 4 erlitt eine Buchlandung mit der Kampagne für Einzelspieler, die theatralischer und pathetischer kaum hätte sein können. Der Mehrspielerpart ist zwar seriengetreu ein hervorragendes Gefechtsspiel, aber Kriegsspiele sind solche Team-Shooter nicht. (Battlefield 4: Offizieller Singleplayer-Storytrailer / Kanal EA – Electronic Arts (deutsch) via Youtube)

Ich möchte nicht darauf hinaus, Team-Taktik-Shooter dafür zu kritisieren, dass sie nicht reflektiert genug wären oder nicht genug Tiefgang hätten. Ihr spielerischer Schwerpunkt liegt nunmal auf dem schnellen taktischen Wettkampf zwischen annähernd ausgeglichenen Teams – wie ein Räuber- und Gendarm-Spiel des digitalen Zeitalters, mit mehr Bombast und spannender als das frühere Getobe durch den Wald. Mich selbst fesseln die wendungsreichen Schlachten der ->Battlefield-Reihe immer wieder.

Allerdings hängen sich immer mehr Multiplayer-Shooter den Mantel einer Handlung um, der Einzelspieler anziehen soll. Oft entsprechen diese Kampagnen eben genau den oben genannten bedenklichen Kriterien. Hier treten dann auch Zivilisten in Erscheinung, jedoch oft nur für den kurzen Moment, wenn sie in die Quere bewaffneter Verbände kommen, fliehen oder evakuiert werden. Diese Spiele sind also Gefechtsspiele, die den Titel Kriegsspiel nicht verdient haben. Dass Shooter sich mit Fragen von Kriegsfolgen viel intensiver befassen können, zeigte das klug inszenierte ->Spec Ops: The Line von den deutschen Entwicklern ->Yager aus Berlin. Dem Studio gelang es mit denkwürdigen Erfahrungen dem Spieler sein militärisches und moralisches Handeln vor Augen zuführen und durch kräftige Schockmomente infrage zu stellen (siehe ->DGBL: Der Geruch von Phosphor am Morgen, in: Keimling vom 15. August 2013).

Ein Leben in den Ruinen, ständig in Gefahr und ohne jeden Schutz transportiert This War of Mine des polnischen Entwicklers 11bit studios (Abb. Ausschnitt eigener Screenshot)
Ein Leben in den Ruinen, ständig in Gefahr und ohne jeden Schutz transportiert This War of Mine des polnischen Entwicklers 11bit studios in die Köpfe der Spieler (Abb. Ausschnitt eigener Screenshot)

Es musste erst das kleine polnisch Indie-Studio ->11bit studios kommen, um den Fokus auf das Leid der Zivilisten zu lenken, die während eines Krieges in den Trümmern von Stadt und Staat zu überleben versuchen. Damit fügt es nicht nur eine Facette moderner Kriege hinzu, die aktueller nicht sein könnte. Schließlich muss man den Blick nur in Richtung der schwelenden Ukraine oder des arabischen Flächenbrandes wenden. Vielmehr beweist ->This War Of Mine eindrucksvoll, dass Spiele mehr leisten können, als Spaß zu machen. Für die schonungslose Erfahrung, die Spielern die hässliche Fratze ihres Spiegelbildes vorhält, gewannen die Entwickler 2015 den ->Deutschen Computerspielpreis (DCP) in der Kategorie ->Bestes Internationales Spiel. Einen Vorgeschmack auf das fordernde Spielerlebnis geben die Entwickler mit der Webseite ->warisnotachoice.com , in der interaktive Trailer die teils gravierenden Nachwirkungen von Entscheidungen aufzeigen.

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Dass selbst die Folgen wohlüberlegter Entscheidungen in einem Kriegsgebiet unabsehbar sind, zeigen 11bit studios eindrucksvoll im aktuellen Trailer aus zwei Perspektiven. (This War Of Mine – War is not a choice / Kanal 11bit studios via Youtube)

Begleitend zu dieser Ehrung offenbarte sich jedoch auch, wie weit die deutsche Spielekultur noch davon entfernt ist, selbst einen reifen, erwachsenen Umgang mit einem solchen Spiel zu pflegen. Und das, obwohl gerade viele Vertreter im Journalismus über Games und in der Videospiele-Wirtschaft diesen von der Gesellschaft immer wieder einfordern…

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